Boateng beim FC Bayern
Verlust von Identität
08. Okt 2023, 08:00 Uhr
Der FC Bayern holt doch nicht den vereinslosen Jérôme Boateng. Das Vorgehen um den vor Gericht angeklagten Verteidiger zeigt, dass dem Klub die Ethik verlorengeht. Und das überträgt sich auch auf das Team.
Wie es um den Gemütszustand des FC Bayern bestellt ist, veranschaulichte eine Stadion-Choreografie am vergangenen Dienstag. Nicht diejenige der eigenen Fans, sondern der Anhängerschaft des FC Kopenhagen anlässlich des Spiels in der Champions League. Im Zentrum des Tribünenbilds stand das Klubwappen von Kopenhagen, ein Löwe. Darunter wurde suggeriert, dass sich die Bayern vor ihm fürchteten: Das Management und die Mannschaft, repräsentiert durch Ehrenpräsident Uli Hoeness und Führungsspieler Thomas Müller, liefen nach links, die Fans nach rechts. Offensichtlich sind die Spannungen im FC Bayern so deutlich geworden, dass sie selbst im Ausland wahrgenommen werden. Die unterschiedlichen Laufwege der einzelnen Interessengruppen zeigten sich in dieser Woche an der Säbener Strasse erneut, und zwar in der Personalie Jérôme Boateng.
Den deutschen Weltmeister, der mit Bayern 2013 und 2020 das Triple gewann, jagte der Verein vor zwei Jahren mit unschönen Worten vom Hof. Weil kürzlich alle Innenverteidiger ausfielen, erwogen die Bayern nun plötzlich eine Rückkehr des vereinslosen Abwehrspielers und liessen ihn am Mannschaftstraining teilnehmen – trotz einer Anklage gegen ihn wegen Körperverletzung.
Boateng wird beschuldigt, seine frühere Partnerin geschlagen, gebissen und bespuckt zu haben
Boateng wird beschuldigt, seine frühere Partnerin, mit der er zwei Kinder hat, geschlagen, gebissen, bespuckt und beleidigt zu haben. Zwei Münchner Gerichte erklärten ihn für schuldig. Allerdings wurde das Urteil soeben wegen Rechtsfehlern aufgehoben. Der Fall wird demnächst neu aufgerollt.
Die Vorwürfe gegen Boateng spielte der FC Bayern herunter. Der in dieser Sache unglücklich auftretende Sportdirektor Christoph Freund, den der Vorstand vor der Reise nach Kopenhagen überraschend vorschickte, fand, die Vorwürfe gegen Boateng seien dessen «private Geschichte» und «kein grosses Thema» für den Klub. Ähnlich argumentierte der Trainer, Thomas Tuchel: Als Fussballverein habe Bayern das Recht, auch Fussballentscheidungen zu treffen. Und Aushilfscaptain Joshua Kimmich äusserte zögerlich, er könne zu Boateng nichts sagen, weil er den Stand der Dinge nicht kenne. Zuvor hatte Kimmich berichtet, im Team hätten viele, auch er, sich «sehr gefreut», Boateng wiederzusehen. Das Vorgehen des Vereins hatte offenkundig das Ziel, die Reaktion der Öffentlichkeit zu einer möglichen Anstellung von Boateng auszutesten, wie es Manchester United kürzlich in vergleichbarer Situation getan hatte.
Das Vorgehen des Vereins hatte wohl zum Ziel, die Öffentlichkeit auszutesten
Doch das Echo fiel eher nicht nach Wunsch aus. Die FCB-Fanorganisation «Club Nr. 12» teilte zum Fall Boateng mit, die Klubführung solle «jederzeit auf seine Satzung, aber auch das Empfinden der Fans achten». Das Statement war eine feine Spitze auf die Bekanntgabe des Vereins am Mittwoch, wonach sich das Präsidium mit den Mitgliedern auf einen umfassenden Antrag zu einer Satzungsänderung auf der Jahreshauptversammlung im November verständigt hat. In der überarbeiteten Version, deren Umsetzung nur eine Formalität sein dürfte, heisst es: Der FC Bayern München e. V. – 75-prozentiger Anteilseigner der den Profispielbetrieb verantwortenden AG – trete «jeder Form von Gewalt, unabhängig davon, ob sie körperlich oder seelischer Art» sei, entschieden entgegen. Aufgrund der Kritik schwenkte der deutsche Rekordmeister in einer Stellungnahme am Freitag um, verzettelte sich dabei allerdings in Widersprüchen. Zwar wird Boateng eine «gute körperliche Verfassung» bescheinigt, aber «in der Betrachtung aller Aspekte» sei entschieden worden, auf eine Anstellung zu verzichten.
Dass der Klub zu diesem Entschluss erst nach dem öffentlichen Aufschrei gelangt ist und zunächst nicht einmal seine eigene Satzung zu kennen schien, spricht für den Verlust eines angemessenen moralischen Empfindens. Die mangelnde Stringenz in der On-off-Personalie Boateng exemplifiziert, wie der einst entscheidungssichere FC Bayern seine Linie verloren hat. Beziehungsweise die eigene Linie nur noch darin zu bestehen scheint, sie nach jeweiliger Interessenlage zu biegen.
San mia mia? Oder san mia nicht mittlerweile wie alle anderen?
Jahrelang wurden die Bayern als mitgliedsstärkster Verein Europas (über 300000 Menschen) für ihre «Mia-san-mia»-Hauspolitik bewundert. Diese stellte auf gewisse Weise soziale Verantwortung auf eine Stufe mit sportlichem und finanziellem Erfolg. Die Berücksichtigung ethischer Werte hob den Klub von der Konkurrenz ab. Doch immer mehr drängt sich die Frage auf: San mia mia? Oder san mia nicht mittlerweile wie alle anderen?
Als Auslöser für den zunehmenden Identitätsschwund gilt der stark gewachsene wirtschaftliche Druck auf den FC Bayern. Der Saisonerfolg bemisst sich am Abschneiden in der Champions League. Um in diesem Wettbewerb weiter mit den von Investoren unterstützten ausländischen Klubs mithalten zu können, sind die Münchner auf kontinuierliche Umsatzsteigerungen angewiesen. Der Verein unterhält mittlerweile eines der kostspieligsten Kader. Dadurch bleiben gesellschaftliche Aspekte fast zwangsläufig auf der Strecke, wie zuletzt die hochumstrittene, nun eingestellte Partnerschaft mit der staatlichen Fluggesellschaft von Katar bewies.
Die Mannschaft scheint den Gesamtzustand des Vereins anzunehmen
Und das hat Folgen. Das kalkulierte Vorgehen des FC Bayern überträgt sich auf die Mannschaft, die immer mehr den Zustand des Gesamtvereins annimmt. Die Spieler wirken freudlos, verwöhnt, selbstbezogen und wankelmütig. Sie sind mutmasslich negativ geprägt von den am Ende der letzten Saison abgesetzten Führungskräften: der Nichtkommunikation des Vorstandchefs Oliver Kahn, der sich mit mehr externen Beratern als Mitarbeitern zu umgeben schien, der Hochstapelei des Sportvorstands Hasan Salihamidžić und den boulevardesk anmutenden Auftritten des Trainers Julian Nagelsmann.
Das Machtvakuum füllte zuletzt ein siebenköpfiger Ausschuss, zu dem auch die einstigen Klubbosse Uli Hoeness und Karl-Heinz Rummenigge zählten. In dieser Runde hatte jeder eine Meinung und kurz darauf oft wieder eine andere – aber offenkundig hat keiner von ihnen mehr eine kultivierte Haltung.