Defensives Mittelfeld des FC Arsenal

König und Königsmacher

09. Apr 2024, 19:13 Uhr

Declan Rice (rechts) und Jorginho bilden das defensive Mittelfeldgespann des FC Arsenal. (Foto: Jacques Feeney)
Declan Rice (rechts) und Jorginho bilden das defensive Mittelfeldgespann des FC Arsenal. (Foto: Jacques Feeney)

Vor dem Champions-League-Viertelfinale gegen den FC Bayern verfügt der FC Arsenal über die beste Defensive in Europa. Verantwortlich dafür ist vor allem das Mittelfeldgespann Declan Rice und Jorginho. Über ein Duo, das die Bayern dringend benötigen würden.

Von Sven Haist, London

Womöglich hat sich vor dem Viertelfinal-Hinspiel des FC Arsenal gegen den FC Bayern in der Champions League am Dienstagabend der bisherige Saisonverlauf der beiden Vereine bereits im Sommer 2023 abgezeichnet. Damals wirkte Arsenals Trainer Mikel Arteta geradezu tiefenentspannt, als er während der Vorbereitung in den USA den Kader analysierte. Grundsätzlich liebe er Mittelfeldspieler, erzählte Arteta dem TV-Sender CBS. Und nun habe er gleich „drei sehr gute defensive Mittelfeldspieler“ in den eigenen Reihen: den Ghanaer Thomas Partey, 30, den Italiener Jorginho, 32, und den Engländer Declan Rice, 25. Letzterer war soeben als kostspieligster Akteur der Vereinshistorie für 105 Millionen Pfund Ablöse von West Ham United gewechselt.

Artetas Einlassungen gingen seinerzeit im riesigen Mittelfeld des Atlantiks unter, sie schafften es mangels Relevanz kaum in die Medien. Denn die Zitate werden vor allem erst im Kontrast zu den damals fast gleichzeitigen Aussagen seines Kollegen Thomas Tuchel bedeutsam. Der Bayern-Trainer machte besorgt öffentlich, dass er einen „ganz speziellen Spielertypen“ im Team vermisse. Und zwar den eines positionstreuen Mittelfeldabräumers, eines sogenannten Sechsers. Aber keiner seiner Vorgesetzten wollte in dieser Personalie während der Sommer-Transferperiode dieselbe Dringlichkeit erkennen wie er.

Seit dem Abschied von Thiago fehlt dem FC Bayern ein Sechser

In gewisser Weise fehlt den Bayern ein solcher Profi schon seit dem Abschied von Thiago Alcántara 2020. Er verließ den Klub nach dem bisher letzten Königsklassentriumph zum FC Liverpool. Die Wichtigkeit des Spaniers, der in jener Saison alle K.o.-Spiele als Stratege vor der Abwehr absolviert hatte, schienen die Bayern imposant zu unterschätzen. Seine Stelle ist seither nie angemessen nachbesetzt worden, weil die Klubführung vermutete, das neue Mittelfeldgespann Joshua Kimmich und Leon Goretzka könnte Thiagos Weggang locker kompensieren.

Stattdessen musste der deutsche Rekordmeister bei den vergangenen drei Champions-League-Viertelfinalpleiten auf erstaunlich ähnliche Art entscheidende Gegentore hinnehmen. Immer war es ein Konter, immer ging es durch die Mitte: 2021 erzielte Kylian Mbappé für Paris Saint-Germain so den Siegtreffer im Hinspiel; im Folgejahr gelang dem FC Villarreal im Rückspiel der Ausgleich; und als Erling Haaland für Manchester City 2023 im Rückspiel traf, war in der Entstehung ebenfalls das Zentrum verwaist.

Mit Jorginho gewann Tuchel die Champions League, Rice wollte er nach München holen

Auch in dieser Saison konnte Lazio Roms Anderson bei einem Gegenstoß unbedrängt durch die Bayern-Hälfte laufen und damit den Siegtreffer per Elfmeter im Achtelfinal-Hinspiel einleiten. Konsterniert kritisierte Tuchel, seine Elf habe trotz Überzahl den Angriff nicht stoppen können. Aus diesem Grund hatte Tuchel das Akquirieren eines überwiegend auf die Verteidigung achtenden Mittelfeldmanns gefordert. In seinen erfolgreichsten Trainersaisons, als er 2020 mit PSG und 2021 mit Chelsea hintereinander das Königsklassenfinale erreichte und letzteres gewann, besaß er zwei der spielintelligentesten Akteure auf dieser Position: Marquinhos in Paris und Jorginho in Chelsea.

Nach Arsenals Verpflichtung von Rice, den sich auch die Bayern sehr gut als mögliche Verstärkung hätten vorstellen können, wäre es aus Münchner Perspektive naheliegend gewesen, bei den Alternativen Partey und Jorginho nachzufragen. Doch Arteta schloss einen Wechsel der beiden im CBS-Interview kategorisch aus. Trotz zahlreichen Interessenten versicherte er seinen defensiven Mittelfeldspielern, alle im Team „irgendwie unterzubringen“. Und das ist ihm bis hierhin eindrucksvoll gelungen.

Arsenal-Trainer Arteta lobt Rice als “Leuchtturm” der Mannschaft

Durch Artetas geschickte Verwendung von Jorginho, Rice und Partey stellt Arsenal die beste Verteidigung in England, und auch in Europa. In diesem Jahr kassierte der Titelanwärter der Premier League nur sieben Gegentore in 13 Pflichtspielen. Während der zuletzt lange wegen einer Oberschenkel-OP ausgefallene Partey als Defensivspezialist gilt und gerade bei Führungen gefragt ist, bilden Jorginho und Rice momentan das grundlegende Gespann vor der Abwehr. Sie agieren bei gegnerischem Ballbesitz auf derselben Verteidigungshöhe. Doch im eigenen Ballbesitz rückt Rice auf die halblinke offensive Mittelfeldposition vor, um seine Lauf- und Durchsetzungsstärke sowie Torgefährlichkeit auszunutzen. Bisher kommt er auf sechs Tore und sechs Vorlagen in der Liga, nur drei Teamkollegen haben eine bessere Bilanz. Er hat sich zu einem Universalspieler entwickelt, der auf der Sechserposition bisweilen unterfordert wirkt. Arteta beschreibt ihn als „Leuchtturm“, der seiner Mannschaft Licht, Klarheit und Orientierung gebe.

Rices Wechselspiel kann sich Arsenal erlauben, weil Jorginho ihm den Rücken freihält. Europas Fußballer des Jahres 2021 ordnet mit seiner Antizipationsfähigkeit die Defensive. Kürzlich bezeichnete ihn DFB-Nationalspieler Kai Havertz treffend als „den Kopf von uns allen“, der Ton und Rhythmus auf dem Spielfeld bestimmt. Sein Gefühl für das Spiel verschafft Jorginho stets die richtige Positionierung. Und im Duell mit den vielen geschmeidigen gegnerischen Spielmachern hilft ihm der niedrige Körperschwerpunkt (1,78m). So gehört er nicht trotz, sondern gerade wegen seiner schmächtigen Statur zu den Spezialisten für Balleroberungen.

Jorginhos Potenzial entdeckte Trainer Sarri, Tuchel und Arteta setzten es am besten ein

Jorginhos Potenzial auf internationalem Spitzenniveau entdeckte der frühere Napoli-Coach Maurizio Sarri als erstes. Er nahm ihn 2018 mit zu Chelsea, wo Thomas Tuchel später die richtige Struktur um ihn herum fand. In seinem wohl besten Spiel für den Klub dirigierte Jorginho seine Elf zum Königsklassentriumph gegen Manchester City im Finale. Und ein paar Monate später auch Italien zum EM-Titel 2021. Tuchel adelte ihn als Spieler, der vorausahnen könne, was nach mehreren Pässen passieren werde. Als Chelsea Tuchel im September 2022 entließ, schien Jorginho fortan einen schweren Stand zu haben. Der Klub verkaufte ihn im folgenden Winter an Arsenal.

Mit seiner Gedankenschnelle und Ballsicherheit ist Jorginho der nahezu idealtypische Spieler, um unter Bedrängnis eigene Angriffe zu initiieren. Havertz sagte mal, Jorginho genüge schon ein kurzer Blick, um die nächste Aktion zu planen. Denn er könne seine Bewegungen deuten. Anders als viele offensive Spieler hält er sich in den Anschlussaktionen aber zurück, er schaltet sich kaum in offensive Aktionen ein. Bei Arsenal schießt er selbst quasi nie – außer Elfmeter. Sein einziges Tor für die Londoner erzielte er per Strafstoß. (Und selbst da verzögerte er den Anlauf so lange, bis fast fraglich erschien, ob es überhaupt zur Ausführung kommt.)

Die Fähigkeiten von Jorginho und Rice ergänzen sich

Trotz seiner Erfolge fehlt Jorginho in der Fußball-Öffentlichkeit bisweilen die Akzeptanz als einziger defensiver Mittelfeldspieler. Dies liegt wohl an der landläufigen Meinung, dass es ihm für die herausfordernde Position an den physischen Fähigkeiten mangele. Die Ansicht widerlegte zunächst Tuchel und nun Arteta, indem sie eine Struktur um ihn herum schafften, die seine Dynamikdefizite auffing. Beide Teams verteidigen in engen Abständen und stellten ihm passende Nebenleute zur Seite. Bei Chelsea war es N’Golo Kanté, bei Arsenal nun Rice. Zusammen sind Rice und Jorginho so etwas wie König und Königsmacher.

Mikel Arteta ist es also tatsächlich gelungen, die Stärken der drei defensiven Mittelfeldspieler richtig einzusetzen. Als er im CBS-Interview darauf angesprochen wurde, dass die Wahl zwischen Rice, Jorginho und Partey doch „ein gutes Problem für einen Trainer“ sei, antwortete er: „Ja, absolut!“ Es ist davon auszugehen, dass Thomas Tuchel diese Art von Problem auch gern haben würde.

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