Ricardo Pietreczko bei der Darts-WM
Ein Maler ist Deutschlands Farbtupfer
29. Dez. 2024, 15:26 Uhr
Erstmals in seiner Karriere steht Ricardo Pietreczko im Achtelfinale der Darts-WM. Damit ist der Nürnberger auch der letzte Deutsche im Turnier. Mit seiner unerschrockenen Art passt er bestens ins Ambiente im Ally Pally.
Das größte Kompliment erhielt Ricardo Pietreczko vom Gegner. Der Engländer Scott Williams, der in der Darts-Szene zu den eher kontroversen Typen zählt, formte Daumen und Zeigefinger anerkennend zu einem Kreis und gratulierte Pietreczko auf diese Weise zum Sieg. Er verstärkte seine Geste noch, indem er sie mit einem Küsschen versah. Damit wollte Williams symbolisieren, wie vorzüglich die Darbietung des Kontrahenten gewesen war. Tatsächlich lieferte Ricardo Pietreczko eine der besten Leistungen ab, die einem deutschen Spieler bisher überhaupt im Londoner Alexandra Palace gelungen ist. Mit einer fulminanten Kombination rundete er entsprechend seinen ersten Match-Dart ab: Er setzte den Restwert „121“ auf 0 – mit Pfeilen ins Bulls Eye, in die Dreifach-13 und Doppel-16.
Durch das 4:1 gegen Williams nach Sätzen steht Ricardo Pietreczko erstmals in seiner Laufbahn im Achtelfinale der WM. So weit im Turnier hatte es aus deutscher Sicht bisher nur Gabriel Clemens geschafft, er kam vor zwei Jahren ins Halbfinale. Für Pietreczko ist es klar der größte Erfolg seiner Karriere. Zwar holte er bereits seinen ersten Profititel bei den German Darts Championship in der Vorsaison, das Weiterkommen beim Jahreshöhepunkt sei aber „höher zu ranken als alles andere“, sagte er nun. Der Weltranglisten-34. wird sich nach der WM um mindestens einige Positionen verbessern. In jedem Fall löst er Clemens als zweitbesten Deutschen in der Rangliste ab. Das garantiert ihm zusammen mit dem führenden Landsmann Martin Schindler das Mitwirken am World Cup of Darts, einem prestigeträchtigen Länderwettbewerb, bei dem die zwei jeweils besten nationalen Spieler im Team antreten.
Im Vorjahr warf Ricardo Pietreczko beinahe den späteren Weltmeister raus
Bei der vergangenen WM war Ricardo Pietreczko bereits auf beachtlichem Weg, für Aufsehen zu sorgen. Damals hatte er den späteren Weltmeister Luke Humphries in derselben Runde am Rande der Niederlage, er führte 3:1, verlor dann allerdings drei Sätze in Folge und somit die Partie. „Nervös“ sei er seinerzeit ob der sich auftuenden Chance geworden, berichtete Pietreczko am Samstagnachmittag, diese Erfahrung sei ihm diesmal zugutegekommen. Beim Spielstand von 2:1, nachdem Williams gerade verkürzt hatte, trumpfte der 30-Jährige mit einem fulminanten Satz auf. Seine Durchschnittspunktzahl pro Anwurf lag bei enormen 118, am Ende warf er die „129“ krachend über das Bulls Eye aus. „Ich hab mir gedacht: Scheiß drauf, mach ich!“ Immer wieder ging sein Blick dabei zur Freundin im Publikum.
Ohne Selbstbewusstsein und Nervenstärke geht es im Darts nicht. Darüber hinaus verfügt Pietreczko aber über eine spielerische Leichtigkeit, die sich kaum erlernen lässt. Er wolle den Zuschauern etwas bieten, erklärt er seine manchmal gewagte Spielweise. Einmal versuchte er gegen Williams die „120“ spektakulär mit drei Würfen in die Doppel-20 zu erledigen. Auf diese Variante habe er Bock gehabt, erklärt er. Ihm ist es auf der Bühne anzumerken, wie „cool“ er es findet, dass er mit seinem Hobby Geld verdiene, wie er betont.
Pietreczkos Spitzname ist Pikachu, sein Trikot sieht aus wie von Picasso
Pietreczko ist wie im Vorjahr der letzte Deutsche im Wettbewerb, trotz diesmal insgesamt sechs Startern. Der gelernte Maler und Lackierer ist der deutsche Farbtupfer bei der WM. Sein schwarz-rot-gold gestaltetes Trikot sieht so kunstvoll aus, als hätte es Pablo Picasso kreiert. Seine Darts sind ebenso in denselben Farben gehalten. Er wirft sie in der Reihenfolge der deutschen Nationalflagge, zuerst den schwarzen Pfeil, dann den roten und letztlich den goldenen. Als Erklärung verkündete er dazu vor einigen Jahren, dass er extra überlegt habe, was man als deutscher Spieler tun könnte, um „ein Erkennungsmerkmal“ zu haben. Auf diese Weise hebt er sich im Auftreten von den Kollegen ab.
Aus dem Pool seiner Landsleuten scheint er mit seiner aufgeweckten und unbekümmerten Art am besten in das unkonventionelle Ambiente im Ally Pally zu passen. Auf Typen wie ihn fahren in der Regel die Darts-Aficionados ab – und Pietreczko wiederum blüht im Party-Eldorado auf. „Oh, wie ist es schön“, grölte die deutsche Meute, als sich abzeichnete, dass sich ihr Favorit am Samstag durchsetzen würde. Diesen Evergreen in England zu hören, sei „etwas Besonderes“, freute sich Pietreczko.
Er sei ein „tagesformabhängiger Spieler“, sagt Pietreczko über sich
Er schwärmt für die stimmungsvollen Spielhallen wie Pokémon-Fans für das Fantasiewesen Pikachu. So nennt sich Pietreczko im Darts, der Künstlername Pikachu ist aus seiner Sicht einprägsamer und geläufiger als sein eigener. Das Publikum helfe ihm mit den Anfeuerungen, die Atmosphäre gegen Williams sei genial gewesen, lobte Pietreczko. Den Grund für den positiven Einfluss auf ihn sieht er darin, dass er ein „tagesformabhängiger Spieler“ sei und Darts ein „Kopfspiel“. Bei kleineren Wettbewerben könne er dagegen „nicht so performen“.
Nach dem Match passte ihn hinter der Bühne der TV-Moderator Elton ab. Die Zusammenkunft sei schön gewesen, betonte Pietreczko. Er habe Elton nicht gekannt, hätte ihn aber gleich zu seinem nächsten Spiel eingeladen. Am Montag trifft Pietreczko auf den an zwölf gesetzten Nathan Aspinall. Es werde „Fußballstimmung“ im Ally Pally herrschen, ist sich der Engländer sicher. Bei einem Sieg könnte es zum Neujahrskracher zwischen Pietreczko und Turnierfavorit Luke Littler kommen. Bei den Wurf-Statistiken liegt Ricardo Pietreczko etwa auf demselben Niveau wie die Weltspitze. Sein Average betrug gegen Williams stattliche 97, die Quote auf die Doppelfelder 52 Prozent. Er könne alle schlagen, glaubt er. Als Reaktion auf Williams Würdigung legte er die Hände ineinander und bedankte sich.