Erste Titelfeier nach 17 Jahren
Überdosis aus Rausch und Ekstase
24. Mai 2025, 14:52 Uhr

Die Feierlichkeiten von Tottenham Hotspur nehmen nach dem ersten Titel seit 17 Jahren kein Ende. Der Klub wird die alte Häme los – weil die selbstbewusst Art von Ange Postecoglou die eigenen Nerven beruhigte. Er triumphiert im Stil von José Mourinho.
Die Feierlichkeiten wollten nicht enden, und die Bilder glichen einander: Im Stadion San Mamés in Bilbao liefen die Spieler und Trainer Ange Postecoglou glückselig über den Platz, dass es wie ein Wimmelbild der Freudenszenen aussah. Und im heimischen Stadion in London, wo das Finale gegen Manchester United übertragen worden war, stürmten die Fans von den Tribünen auf den Rasen. Es wirkte, als hätte ein ganzer Verein eine Überdosis Rausch und Ekstase verabreicht bekommen: Tottenham Hotspur, Europa-League-Sieger.
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Der erste Gratulant war ein alter Bekannter. Aus dem Urlaub versendete Harry Kane, der vor seinem Wechsel zum FC Bayern im Sommer 2023 seine komplette Fußballerlaufbahn, abgesehen von ein paar Leihen, bei den Spurs verbracht hatte, mit Abpfiff eine Glückwunschnachricht, versehen mit einem Herz in den Klubfarben. Niemand konnte besser nachempfinden als Kane, wie es ist, Titel ständig tragisch zu verpassen und dann endlich einmal zu gewinnen. Der 31-Jährige musste bis zur Meisterschaft mit den Bayern in dieser Saison seine gesamte Profikarriere lang warten. Nun haben Kane und Tottenham ihre Sehnsucht fast gleichzeitig gestillt.
Auch die eigenen Fans verlorenen den Glauben an einen Titel
Durch ein ersehntes, erduseltes und erkämpftes 1:0 im Endspiel am Mittwochabend endeten für Tottenham 17 Jahre des Wartens. Dass die Spurs ihren Frieden ausgerechnet gegen Manchester United schlossen, passte dabei ins Bild. Über Uniteds Trainerikone Alex Ferguson ist verbrieft, dass er seinen Spielern statt einer Gegneranalyse einst bloß „Lads, it’s Tottenham!“ zuraunte: Männer, es ist bloß Tottenham! Seit der Satz bekannt wurde, rüttelte er am Selbstverständnis des Klubs, bis diesem irgendwann sogar die eigenen Anhänger eine gewisse Ungeschicklichkeit attestierten. Zusammengefasst wird das im Adjektiv „spursy“, was frei übersetzt bedeutet, sichere Siege zu verspielen.
Um den Teufelskreis zu durchbrechen, handelte Tottenham zuletzt so, als würde man das Klubmotto „to dare is to do“ (sich zu trauen, ist, es zu tun) umsetzen wollen. Denn der seit 2001 amtierende Vorsitzende Daniel Levy wagte tatsächlich nahezu alles: Er heuerte eine Reihe unterschiedlicher Trainerfiguren an, von Mauricio Pochettino über José Mourinho und Antonio Conte. Einen Titel holte keiner dieser Granden. Stattdessen gelang dies nun Ange Postecoglou, der vor seiner Trainertätigkeit bei den Spurs international weitgehend unbekannt gewesen war. Der 59-Jährige wurde wie sein aktueller Klub immer wieder mal belächelt. Er stammt aus Australien: einer Nation, in der Fußball eine vergleichsweise kleine Rolle einnehme, wie er gerne erzählt.
Ange Postecoglou vollzog in der Europa League einen erstaunlichen Sinneswandel
Bei seiner Einstellung im Sommer 2023 begleitete Ange Postecoglou vor allem Skepsis. Immerhin konnte er darauf verweisen (und das tat er auch), bei seinen vorherigen Stationen in Australien, Japan und bei Celtic Glasgow stets innerhalb der ersten zwei Spielzeiten einen Titel eingefahren zu haben. Seine Bilanz hielt er den Kritikern immer dann vor, wenn diese an seiner Eignung zweifelten – was praktisch seit anderthalb Jahren der Fall ist. Denn nach einem furiosen Start wirkte sein bedingungsloser Offensivfußball rasch entschlüsselt. Tottenham verlor bereits nach einem halben Jahr in der Premier League an Boden und stürzte in dieser Saison fulminant ab (Platz 17 vor dem letzten Spieltag).
Weil Ange Postecoglou trotzdem am gewagten Spielstil festhielt, der nicht zur Besserung einer schweren Verletzungsmisere beitrug, schien er im Winter unmittelbar vor der Entlassung zu stehen. Das spürte offenbar auch er selbst – und vollzog einen Sinneswandel im Hinblick auf seine Strategie in der Europa League, für die einzige verbliebene Titelchance. In den K.-o.-Runden ließ er einen destruktiven Konterfußball praktizieren, an dem im Viertelfinale auch Eintracht Frankfurt scheiterte. Das zerfahrene Endspiel gegen Manchester und die Art des Siegtreffers – ein Hand-Eigentor von United-Verteidiger Luke Shaw, das man Brennan Johnson zuschrieb (42. Minute) – fasste die neue Ausrichtung pointiert zusammen.
Die selbstbewusste Art von Ange Postecoglou beruhigte die Nerven des Klubs
Wenn man so will, führte der für seine Sturheit bekannte Ange Postecoglou die Spurs mit seiner ergebnisorientierten Spielweise und seinem mindestens selbstbewussten Auftreten so auf das Siegerpodest zurück, wie es einst Mourinho vorgeschwebt war. Vielleicht war das auch der einzige Weg, um die labilen Nerven des Klubs zu beruhigen. Dies tat Postecoglou vor dem Spiel, indem er sich nicht zum ersten Mal konfrontativ und wortgewaltig mit den Medien anlegte. Er sei kein Clown, blaffte er einen Reporter an, der ihn mal als solchen bezeichnet hatte.
Postecoglous Mentalität stand etwa im deutlichen Kontrast zur Vorbereitung auf das verlorene Champions-League-Finale 2019 (0:2 gegen Liverpool), als Klubchef Levy sich eine Gedankenlosigkeit leistete. Er wollte die Spieler damals für das Erreichen des Endspiels ehren und schenkte ihnen vor dem Finale luxuriöse Uhren – mit der Gravierung „Champions League Finalist 2019“. Torwart Hugo Lloris sagte später, er hätte die Uhr bei einem Sieg zurückgeben lassen und eine mit der Aufschrift „Winner“ verlangt.
Hundertausende Spurs-Fans kamen zur Titelparade
All diese alten Wunden heilt nun der Europa-League-Titel, natürlich auch jene aus dieser Saison. Zudem hat man sich über den Gewinn der Europa League einen Startplatz für die Champions League gesichert. Deshalb sind die Chancen für Ange Postecoglou intakt, weiter Trainer bei den Spurs zu bleiben. Den Erfolg wolle er mit einer Flasche Scotch auskosten, kündigte er an. Den Fans rief er zu: „Macht euch bereit für die Titelparade!“