EM-Finalist England

Deutscher als die Deutschen

14. Juli 2024, 01:31 Uhr

Gareth Southgate nahm sich als Nationaltrainer die Freiheit, mit englischen Gepflogenheiten zu brechen und das Team zu germanisieren. (Foto: Alexandra Fechete / Imago)
Gareth Southgate nahm sich als Nationaltrainer die Freiheit, mit englischen Gepflogenheiten zu brechen und das Team zu germanisieren. (Foto: Alexandra Fechete / Imago)

Ausgerechnet in Deutschland könnten die Engländer am Sonntag gegen Spanien erstmals Europameister werden – auch weil sie sich wichtige Merkmale in der Spielweise und im Auftreten vom Erzrivalen aus Germany abgeschaut haben. Der Titel würde das Fußballland von einem ewigen Trauma therapieren.

Von Sven Haist, Berlin

Nach dem Einzug von England in den ersten EM-Final jenseits der eigenen Insel wollte ein verblüffter chinesischer Reporter vom Nationaltrainer Gareth Southgate wissen, warum sich bei seiner Mannschaft eigentlich wiederkehrend Wunder ereigneten. Soeben hatte der englische Einwechselspieler Ollie Watkins in der letzten Minute den Siegtreffer gegen die Niederlande erzielt. Schon im Achtelfinal gegen die Slowakei und im Viertelfinal gegen die Schweiz waren Spielern aus dem Mutterland des Fussballs entscheidende Treffer in der Schlussphase gelungen. Die Frage war vermutlich das grösste Kompliment, das Southgate in diesem Augenblick für seine Arbeit hätte erhalten können. Denn sie suggerierte, dass es ihm seit der Berufung zum Nationaltrainer im Herbst 2016 gelungen ist, sein Land aus der Pleitenspirale herauszuholen. Davor hatte das Magazin «Time» Englands Nationalelf noch als «das enttäuschendste Team der Welt» betitelt.

Gemeinhin wurden bisher stets die Deutschen als jenes Team wahrgenommen, das wie selbstverständlich siegt – manifestiert durch den einst aus der Enttäuschung dahingesagten Spruch des englischen Stürmers Gary Lineker, wonach Fussball ein einfaches Spiel sei, weil 22 Männer dem Ball nachjagen und am Ende immer die Deutschen gewinnen. Doch nun sieht es aus, als würden die Engländer, ausgerechnet an der EM in Deutschland, bisweilen deutscher auftreten und spielen als die Deutschen. Der Grund dafür liegt im Verhältnis der beiden Länder, der vielleicht einseitigsten Rivalität im Weltfussball. Die Engländer schäumen zwar gegenüber den Deutschen wegen der vielen Niederlagen vor Verdruss, bewundern sie aber ehrfürchtig.

Die Rivalität zwischen England und Deutschland ist die einseitigste im Weltfußball

Seit dem Heim-Triumph der Engländer an der WM 1966 gegen Deutschland, der aus heutiger Sicht fast verflucht wirkt, hat quasi jeder bedeutende englische Fussballer irgendwann ein Turnier-Aus gegen die Deutschen erlitten – bei Southgate war es das verlorene Elfmeterschiessen im Halbfinal der Heim-EM 1996, als er den entscheidenden Penalty verzitterte.

Um der Häme der teilweise vernichtend urteilenden britischen Presse entgegenzuwirken, nahm er sich nach dem damaligen Turnier in einem Werbefilm für eine Pizzakette selbst auf den Arm – wodurch das Malheur nur noch zeitloser wurde. Wenig überraschend fiel es Southgate lange Zeit schwer, mit der Situation abzuschliessen. Er habe eine Million Dinge von diesem Tag gelernt, sagte er einmal, vor allem, dass es nicht das Ende sei, wenn etwas im Leben schieflaufe. Er fand sogar, es mache einen irgendwie frei.

Das verlorene EM-Halbfinale 1996 war für die Engländer ein Höchstschmerz – aber auch der Wendepunkt

Er selbst nahm sich die Freiheit, die englische Nationalmannschaft zu germanisieren. Der eigene EM-Verlauf 2024 entspricht dem klassischen Klischee einer deutschen Turnierelf. Von den mühsamen Gruppenspielen bis zum beachtlichen Halbfinal haben sich die Engländer gesteigert, sie sind sozusagen ins Turnier hineingewachsen.

Die Spielweise ist nicht mehr wie früher oft auf einen offenen Schlagabtausch ausgelegt, sondern beinhaltet jene Attribute, die einst DFB-Teams zugeordnet wurden: mannschaftliche Geschlossenheit, stabile Abwehr, ökonomischer Ergebnisfussball, individuelle Klasse, gute Einwechslungen, hohe Effizienz – und späte Tore.

In der Vorrunde wurde Gareth Southgate noch mit Bierbechern beworfen. Jetzt tanzt er vor den jubelnden englischen Fans.

Das Fundament dafür, dass die Engländer auf einmal gemäss der Weisheit ehemaliger Turniersieger in der Lage sind, schlecht zu spielen und dennoch zu gewinnen, sind der Teamgeist sowie ihre Widerstandskraft und Nervenstärke. Southgate hat sich diese Dinge unter anderem bei den Deutschen abgeschaut – und er lebt sie seinem Team vor, indem er an den Führungsspielern festhält, den Wert der Ersatzspieler betont, sich bei Kritik immer vor die Mannschaft stellt und sich bei seinen Entscheidungen nicht von den Stimmungsschwankungen in der Heimat beeinflussen lässt. «Das ist alles sehr unenglisch, nicht wahr?», stellte die «New York Times» in ihrer Analyse fest.

Der englische Turnierverlauf entspricht dem Klischee der Turniermannschaft

An den Strategiewechsel musste sich die englische Öffentlichkeit zunächst gewöhnen. Sie erkennt erst jetzt den Nutzen des neuen Vorgehens an, nachdem der Trainer zunächst scharf angegangen worden war. Ein «Times»-Reporter verschriftlichte den Gemütszustand der Nation, die sich gerade auf freier Bahn in den Fussballhimmel wähnt. Er kommentierte, es mehr genossen zu haben, England nach dem verlorenen EM-Final 2021 erneut auf dem Weg dahin zuzusehen, als er es je in Worten ausdrücken könnte. «Alle wollen geliebt werden, nicht wahr?», kommentierte der Trainer wohlwollend die neue Zuneigung aus der Heimat.

Gareth Southgate hat mit dem Erreichen des Finals gewissermassen sein eigenes Trauma und das seines Landes therapiert. Was er dafür vor allem verantwortlich macht, teilte er dem chinesischen Fragesteller kurz als Antwort mit: «Charakter.» Den bewiesen seine Mannschaft an mehreren in Rückstand liegenden Spielen und der 53-Jährige in der für ihn schwierigsten Turniersituation, als er in der Vorrunde von manchen Landsleuten mit Bierbechern beworfen wurde: Er stellte sich ihnen trotzdem. Sollte Southgate nun wirklich England in Deutschland auf deutsche Weise zum Titel führen – es käme tatsächlich einem Wunder gleich.

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