Jürgen Klinsmann im EM-Interview

«Das Viertelfinale ist für Deutschland nie ein Erfolg»

14. Jul 2024, 00:46 Uhr

Der Beobachter aus der Ferne: Nach seiner Spielerkarriere, in der er mit Deutschland die WM 1990 und die EM 1996 gewann, verlegte Jürgen Klinsmann seinen Lebensmittelpunkt nach Kalifornien. (Foto: Team 2 / Imago)
Der Beobachter aus der Ferne: Nach seiner Spielerkarriere, in der er mit Deutschland die WM 1990 und die EM 1996 gewann, verlegte Jürgen Klinsmann seinen Lebensmittelpunkt nach Kalifornien. (Foto: Team 2 / Imago)

Jürgen Klinsmann spricht im langen EM-Interview über die taktischen Trends des Turniers, warum er Julian Nagelsmann vertraut und was ihm an der Schweiz gefällt. Zudem erklärt der frühere DFB-Trainer, wie ihm die Rolle Deutschlands als Gastgeber gefallen hat – und weshalb die WM 2026 ein wirkliches Turnier der Superlative wird.

Von Sven Haist, Berlin

Jürgen Klinsmann hat einen besonderen Blick auf den deutschen Fussball, der zugleich von grosser Nähe und Distanz geprägt ist. Als Nationalspieler gewann er mit Deutschland die WM 1990 und die EM 1996. Später übernahm er das DFB-Team als Trainer vor der WM 2006 und führte es auf den dritten Platz. Das Heimturnier veränderte seinerzeit das Ansehen der Deutschen im Ausland positiv und gilt als Ursprung des Weltmeistertitels 2014 unter Klinsmanns früherem Assistenten Joachim Löw. Nach seiner Karriere als Stürmer, in der Klinsmann für den FC Bayern, Inter Mailand, AS Monaco und Tottenham Hotspur kickte, verlegte der Schwabe seinen Lebensmittelpunkt nach Kalifornien. Zuletzt coachte der 59-Jährige das Nationalteam Südkoreas.

Jürgen Klinsmann, neben der EM in Deutschland findet zurzeit auch die Copa América in den USA statt. Sie verfolgen beide Turniere intensiv. Wo wird der bessere Fussball gespielt?
Jürgen Klinsmann: Das hängt natürlich vom Match ab. In puncto Intensität und Tempo ist die Copa América wirklich vom Feinsten, da geht es voll zur Sache. Der Viertelfinal zwischen Brasilien und Uruguay (4:2 im Penaltyschiessen für Uruguay, 0:0 nach regulärer Spielzeit; Anm. d. Red.) war auf einem sensationellen Niveau.

Welches EM-Spiel kam dem am nächsten?
Deutschland gegen Spanien in Ansätzen, sonst wahrscheinlich keine Partie. Sowohl die Deutschen als auch die Spanier haben auf Sieg gespielt. Das war der Unterschied zum Viertelfinal zwischen Frankreich und Portugal, in dem beide Nationen in erster Linie nicht verlieren wollten. Der Match war langweilig, beinahe fürchterlich, obwohl mit Kylian Mbappé und Cristiano Ronaldo zwei Weltklassespieler auf dem Platz gestanden waren. Da dachte ich mir: Das kann doch nicht wahr sein.

Woran lag das?
Viele Partien laufen sehr taktisch und verhalten ab. Die Mannschaften gehen wenig Risiko ein und wollen lieber erst einmal kein Tor bekommen, statt mit Nachdruck eines zu schiessen. Die Spitzenteams tasten sich meistens lange Zeit ab, bis irgendwann ein Tor fällt und sich das Spiel öffnet. Und kleinere Nationen verteidigen häufig mit allen Spielern am eigenen Strafraum. Sie achten nicht darauf, ob es ein schönes Spiel wird, sondern wollen den Favoriten durch einen Konter oder eine Standardsituation bezwingen. An der Copa América spielen die Teams mehr mit offenem Visier, dort ergreifen selbst Aussenseiter wie Kanada, das gerade den Halbfinal erreicht hat, die Initiative und verstecken sich nicht.

Gibt es eine solche Mannschaft auch an der EM?
Die Schweiz! Ich möchte das Land explizit hervorheben und für die Spielweise loben. Mich hat der offensive und attraktive Stil begeistert. Die Qualität war beeindruckend. Die Schweizer haben immer versucht, mit mehreren Spielern anzugreifen und sich Torchancen zu erspielen. Sie sind für mich die positivste Überraschung der EM – wobei Überraschung vielleicht ein bisschen übertrieben klingt. Denn das Land ist im Fussball schon immer respektiert worden und hat jüngst gute Turnierresultate erzielt. Nur ist es halt stets knapp ausgeschieden.

Dieses Mal war für die Schweiz erneut sehr unglücklich gegen England Schluss. Wie bewerten Sie das Abschneiden?
Absolut top. Das Erreichen des Viertelfinals muss für die Schweizer ein riesiges Kompliment sein, obschon sie ein ambitioniertes Selbstverständnis von sich haben. Mit einem vergebenen Elfmeter auszuscheiden, ist brutal und schade, weil diesmal wirklich noch mehr drin gewesen wäre für die Schweiz. Die Mannschaft hat über viele Jahre Erfahrungen gesammelt und an der EM nun einen Höhepunkt erreicht. Sie hat Freude und Leidenschaft ausgestrahlt und ist von den Fans phänomenal unterstützt worden. Ich wünsche mir, dass die Schweiz die Niederlage als Ansporn für das nächste Turnier begreift.

Was sehen Sie als die Stärken des Teams?
Um etwas zu bewegen, benötigt man Spieler, die auf ihrem Zenit sind – und das ist bei der Schweiz der Fall. Die wichtigsten Spieler stehen bei internationalen Spitzenvereinen unter Vertrag. Yann Sommer ist ein wunderbarer Torhüter, Manuel Akanji ein Weltklasseverteidiger und Granit Xhaka ein unangefochtener Leader. Für mich ist er der Meistermacher von Bayer Leverkusen und hätte es verdient gehabt, in Deutschland zum Spieler des Jahres gekürt zu werden. Wie er die Mitspieler antreibt, ist phantastisch. Er überträgt seinen Willen, immer bis zum letzten Moment alles zu geben. Xhakas Einstellung war massgeblich verantwortlich dafür, dass Leverkusen in der vergangenen Saison so viele Tore in der Schlussphase erzielt hat.

Welchen Anteil hat Murat Yakin am Erfolg? Der Trainer ist vor dem Turnier heftig kritisiert worden?
Jürgen Klinsmann: Er hat es geschafft, alle unter einen Hut zu bekommen, was in der Schweiz nie einfach ist. Es ist ein kleines Land, in dem trotzdem vier Sprachen gesprochen werden. In der Vergangenheit war es das Problem der Schweizer, dass ihnen wegen mannschaftsinternen Problemen ein bisschen die Identität und Leidensfähigkeit gefehlt hat. Diese EM hat dagegen ein einheitliches und geschlossenes Bild der Schweiz gezeigt. Alle waren füreinander da, unabhängig von der Herkunft und Sprache.

Ist die Schweiz ein Beweis dafür, dass die europäische Spitze breiter wird?
Ja, die EM hat gezeigt, dass viele Teams den Respekt vor den grossen Fussballländern zunehmend ablegen. Viele Spieler der kleineren und mittelgrossen Fussballnationen verdienen ihr Geld mittlerweile ebenfalls in den führenden ausländischen Ligen. Fast die Hälfte der albanischen Nationalmannschaft kickt etwa in Italien. Dadurch sammeln die Profis Erfahrungen auf internationalem Spitzenniveau und tragen diese in ihre Länder zurück.

Warum haben sich trotzdem die Top-Nationen für die Halbfinals qualifiziert?
Jürgen Klinsmann: Sie besitzen weiterhin die höchste Qualität im Kader. Die Trainer ordnen dem Erfolg alles unter. Sie können es sich nicht erlauben, im Achtelfinal auszuscheiden, weil sie dann in der Regel ausgetauscht werden. So hoch ist die Erwartungshaltung.

An dieser EM sind insbesondere die Engländer für ihre konservative Spielweise kritisiert worden. Wie schätzen Sie Englands Leistungen ein?
England zeigt für mich zwei Gesichter. In der Qualifikation eilt die Mannschaft von Sieg zu Sieg und schiesst viele Tore, an Turnieren agiert sie vorsichtig und zögerlich. Das verträgt sich nicht mit dem Selbstverständnis der Fans, die immer volle Attacke sehen wollen. Die Spielweise ist auf den Charakter des Trainers zurückzuführen. Gareth Southgate macht auf mich einen eher besonnenen und abwartenden Eindruck. Er hat damit bisher beachtliche Erfolge erzielt.

England hat zum dritten Mal in vier Turnieren mit Southgate den Halbfinal erreicht. Woran liegt es, dass es noch nicht zum ersten Titel seit dem WM-Sieg 1966 gereicht hat?
Die allerletzte Überzeugung hat mir bisher gefehlt, ein Turnier wirklich gewinnen zu können. Jetzt, nach dem gewonnenen Elfmeterschiessen ist der Moment eigentlich da, um an den Titel zu glauben. Die Engländer tasten sich langsam heran. Ich würde ihnen den Erfolg gönnen und glaube auch, dass die Zeichen nicht schlecht stehen. Die Verantwortung im Team verlagert sich auf mehrere Schultern, nicht nur auf Harry Kane, der für mich mit seiner Bodenständigkeit der Inbegriff eines Captains ist.

Einer der EM-Stars ist Jude Bellingham, 21, der England im Achtelfinal mit einem Goal mittels Fallrückzieher im Turnier hielt. Wie nehmen Sie seine Rolle wahr?
Jürgen Klinsmann: Die Situation ist enorm schwierig für ihn, weil alles so schnell und unaufhörlich auf ihn einprasselt. Statt Fehler machen zu dürfen, wird von einem erwartet, alles richtig zu machen. Aber es hilft ihm zumindest, dass er bei Real Madrid spielt. Als Ausländer wird man von den Fans nicht direkt als einer von ihnen angesehen und daher stärker in Ruhe gelassen. Bei mir war das einst bei Tottenham Hotspur der Fall, als sich alles auf meinen Sturmpartner Teddy Sheringham fokussierte.

Welchen Rat würden Sie Bellingham geben?
Er benötigt gestandene Spieler an seiner Seite, die ihn führen und ihm helfen, wenn er Gefahr läuft, die Bodenhaftung zu verlieren, was ab und zu ganz normal wäre. Dasselbe gilt für sein familiäres und privates Umfeld. Ich hatte das Riesenglück, als junger Spieler beim VfB Stuttgart erfahrene Profis wie Karl Allgöwer, Guido Buchwald und Asgeir Sigurvinsson um mich herum zu wissen – sie helfen einem, das Gleichgewicht zu behalten. Obwohl das schon lange her ist.

Wie fällt Ihr Fazit für die deutsche Mannschaft aus?
Das Auftreten der Deutschen war sehr ordentlich und eine Kompensation für das Vorrunden-Aus an den Weltmeisterschaften 2018 und 2022. Damals standen wir noch ganz weit hinten. Nun ist es dem DFB-Team gelungen, einen positiven Fussballstil zu transportieren und die Fans wieder hinter sich zu vereinen. Deshalb können wir wieder positiv gestimmt sein. Aber nicht zufrieden. Denn eine Niederlage im Viertelfinal ist für Deutschland nie ein Erfolg. Das Ziel muss immer mindestens der Halbfinal sein.

Wo steht der deutsche Fussball nach dieser EM?
Jürgen Klinsmann: Ich sehe die Mannschaft in einer positiven Entwicklung, in der junge Spieler nachkommen und sich durch den Rückzug von arrivierten Spielern eine neue Hierarchie ergibt. Es wird sich zeigen, ob die neue Generation die Persönlichkeit hat, sich dem Anspruch zu stellen, wieder Titel zu gewinnen. Dafür bedarf es nicht nur fussballerischer Leichtigkeit und Raffinesse, sondern auch anderer Komponenten wie Härte und einen immensen Willen. In dieser Hinsicht war Spanien den Deutschen voraus.

Wie beurteilen Sie die Arbeit des Bundestrainers Julian Nagelsmann?
Er hat einen sehr konzentrierten Eindruck gemacht und eine neue Energie ins Team gebracht. Durch sein vergleichsweise junges Alter erreicht er die Spieler viel einfacher. Ich vertraue ihm, dass er in Zukunft eine schlagkräftige Mannschaft zusammenstellt und den angriffslustigen Stil beibehält.

Hat es Deutschland als Nation geschafft, auch in der Rolle des Gastgebers einen erfreulichen Eindruck zu hinterlassen?
Definitiv. Wir haben sozialpolitisch unglaublich viel Wertschätzung wiedergewonnen, speziell nach dem katastrophalen Auftreten in Katar, das uns viel Kredit gekostet hat. Wir haben uns von der besten Seite gezeigt, die Stimmung in den Stadien und im Land war euphorisch. Die ausländischen Fans haben ihre Zeit bei uns genossen. Viele Freunde von mir aus den USA waren vor Ort und haben wirklich nur positiv über die Organisation und Gastfreundschaft gesprochen. Ich finde, die EM war Werbung für das Land.

Was ist von der WM 2026 in den USA, Kanada und Mexiko zu erwarten?
Jürgen Klinsmann: Die Fussballwelt kann sich auf ein Ausnahmeturnier und ein Wahnsinnsfest freuen. Es wird eines der Superlative, da die Amerikaner die Unterhaltung und die Events richtiggehend leben. Die Infrastruktur ist bereits vorhanden, weil man auf die Stadien im American Football zurückgreift. Phoenix, Las Vegas, Houston, Atlanta: Die Technologie in den Arenen sucht in der Welt ihresgleichen. Die Anzeigentafeln sind bisweilen so lange wie das Spielfeld. Aber es wird auch eine WM der logistischen Herausforderungen sein, weil die drei Länder riesig sind.

Ist es Ihr Ziel, an diesem Turnier wieder als Trainer einer Nationalmannschaft zu arbeiten?
Ich wäre nicht abgeneigt. Wenn sich eine Chance ergibt, eine Nation zur WM 2026 zu führen – warum nicht. Und wenn nicht, werde ich auch so vor Ort sein.

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