Gareth Southgate
«Wir sind keine Primadonnen»
16. Mai 2024, 17:20 Uhr
Im EM-Interview spricht Englands Nationaltrainer Gareth Southgate über seine Spitzenspieler Harry Kane und Jude Bellingham, die Stärke seines Teams, verschossene Elfmeter und seinen Vertrag – und erklärt, warum er Deutsch lernt.
Der Blick aus dem Trainingszentrum von Englands Football Association (FA) ist ähnlich imposant wie die Aussichten der Nationalmannschaft. Der St. George’s Park bei Burton in Mittelengland, für rund 100 Millionen Pfund errichtet und 2012 eröffnet, gleicht einer Oase und ist zur Lebensquelle der Nationalelf von Trainer Gareth Southgate geworden. Dessen Mannschaft reist als einer der Favoriten zur EM in Deutschland.
Seit Southgates Amtsübernahme im Herbst 2016 hat das Mutterland des Fußballs die vielen Missgeschicke in seiner Fußballhistorie, die seit der Heim-WM 1966 keinen Titel mehr hervorgebracht hat, schrittweise verarbeitet. Englands Geschichte handelte meist von Pleiten, Partys und verschossenen Penalties, den Umgang mit dieser Vergangenheit beschreibt auch der Name eines Besprechungsraums im FA-Zentrum: „The Penalty Spot“, der Elfmeterpunkt. Gareth Southgate, 53, der als Nationalspieler im Halbfinale der EM 1996 gegen Deutschland selbst einen entscheidenden Strafstoß vergeben hat, bittet zum Gespräch allerdings in den „Briefing Room“.
BTL: Mister Southgate, es heißt, Sie kämen mehrmals pro Woche ins Büro. Ist der St. George’s Park zu Ihrem zweiten Wohnsitz geworden?
Gareth Southgate: Yesss! Er ist die Heimat und der Treffpunkt des englischen Fußballs. Das Schöne ist, dass man hier immer irgendjemandem begegnet. Ich versuche, ein Gleichgewicht herzustellen zwischen Aufenthalten hier und Besuchen bei den Klubs – und ich versuche, so viele Spiele wie möglich zu sehen. Mein Terminkalender ist abwechslungsreich, das kommt mir entgegen, weil ich es mag, zu reisen und mich mit Menschen auszutauschen.
Welche Bedeutung hat das FA-Zentrum?
Es ist zum großartigen Katalysator jenes Wandels geworden, der bei den Männer- und Frauenteams und bei den Junioren in den vergangenen Jahren stattgefunden hat. Natürlich ist die Anlage nicht allein ausschlaggebend für unsere Erfolge, aber wir hatten zuvor keine echte Heimat. Jeder hat sein eigenes Ding gemacht, das U16- Team war im Süden, die U21 im Norden. Jetzt können wir alle zusammenbringen.
Der Vorteil eines neuen Zuhauses ist: Man kann es selbst gestalten. Welche Arbeitsatmosphäre wollten Sie etablieren?
Gareth Southgate: Es soll Spaß machen, für England zu spielen. Früher hatten wir Jugendspieler, die zu ihren Vereinen zurückgingen und keine Freude verspürten. Und wir hatten Profis, denen man den Druck im Nationaltrikot ansehen konnte. Deshalb war es unser primäres Ziel, dass vor allem die Jüngeren gern zurückkommen. Wir wollen den jungen Spielern das Gefühl geben, dass das Niveau des Coachings gut und die Umgebung freundlich ist – und dass eine gute Zusammenarbeit mit den Klubs herrscht. Wir haben Spezialisten engagiert, die Kurse zur Persönlichkeitsentwicklung geben, wir haben uns für alle Ideen geöffnet, inner- und außerhalb des Fußballs. Bei der Änderung des Ausbildungssystems hat sich die Premier League auch viele Anregungen aus Deutschland geholt.
Mit welchem Gefühl kommen Sie selbst ins Trainingszentrum?
Ich genieße es einfach. Als wir das EM-Finale 2021 erreicht haben, bin ich zur Eingangsschranke gelaufen und dachte: Wow, wirklich schön hier! Es ist nur schade, dass das Wembley-Stadion in London zu weit weg ist und wir zu unseren Heimspielen immer einen Tag vorher anreisen müssen.
Wie sehen es die Spieler?
Als die älteren zum ersten Mal anreisten, waren sie nicht unbedingt begeistert, weil das Gelände etwas abseits vom Schuss liegt. Mittlerweile sind sie angetan. Bei der EM 2021 hat uns das enorm geholfen, weil außerhalb unseres Geländes alles verrücktspielte, es innendrin aber ruhig zuging. Das ist wichtig bei einem Turnier, denn es gibt viel Lärm und Potenzial für Drama.
Ist Ihnen die Quartierwahl deshalb besonders wichtig? In Deutschland sind Sie in einem Spa- und Golf-Resort in Blankenhain im Weimarer Land untergebracht.
Gareth Southgate: Definitiv. Wir wollen viel Platz haben und einen Ort, an dem wir entspannen und wir selbst sein können. Wenn man 50 Tage zusammenlebt, ist das Umfeld sehr wichtig. Manchmal bevorzugen die Spieler ein Stadtzentrum, weil die Wege zu Cafés und Einkaufszentren kurz sind. Aber die Realität beweist, dass unsere Spieler fürs Ausgehen zu bekannt sind. Ich habe diese Erfahrung früher mit vielen prominenten Teamkollegen gemacht. Wenn sie aus dem Hotel gingen, dann … ka-boom! Nationalspieler gewesen zu sein, bedeutet nicht unbedingt, auch ein guter Nationaltrainer zu sein. Aber es kann beim Verständnis für die Spieler helfen.
Wie nehmen Sie die aktuelle Stimmungslage in England gegenüber Ihrem Nationalteam wahr?
Die Leute sind begeistert. Sie sehen, dass es einige gute junge Profis gibt und dass England nicht nur jetzt, sondern auch in zwei, vier und sechs Jahren stark sein wird. Spieler wie Declan Rice, Jude Bellingham, Phil Foden und Bukayo Saka haben trotz ihres Alters schon 30 bis 40 Länderspiele. Sie werden lange Zeit für England spielen.
Und wie fanden Sie die Atmosphäre zu Beginn Ihrer Amtszeit?
Das Gefühl zwischen der Öffentlichkeit und dem Team war gestört. Das hat sich verändert. Die Menschen sehen nun: Es gibt mehr Zusammenhalt, die Spieler engagieren sich, und es bereitet ihnen Freude, das Land zu vertreten.
Was sind die Gründe?
Gespräche mit den Medien glichen früher immer einer Konfrontation. Das macht aber niemandem Spaß und bringt auch keinem etwas. Unser Ziel war daher, die Spieler zum Reden zu bringen und dafür zu sorgen, dass sie sich wohlfühlen, wenn sie über England sprechen. Wir sind offener geworden. Dinge wie Soziale Medien haben geholfen, wir können Bilder von der Mannschaft hinter den Kulissen zeigen. Und die Spieler können sich so präsentieren, wie sie wirklich sind. Früher war vielleicht nur ein Bild pro Training verfügbar, auf dem sie in diesem Moment unglücklich wirkten.
War es nicht riskant, mehr Infos zu teilen – angesichts der wenig zimperlichen Presselandschaft in England?
Mit den Medien zu sprechen, mit den Fans zu kommunizieren, das ist unser Weg. Andy und Greg (Englands Pressesprecher) haben eine brillante Analyse über Kommunikation und Leistung verfasst. Beides lässt sich nicht trennen. Kommunikation ist ein Teil der Leistung, genauso wichtig wie etwa das Medizinische.
Sie sind nicht besorgt, dass Spieler mit Posts für Kontroversen sorgen könnten?
Nein, ich liege nicht nachts wach und mache mir Sorgen, was sie morgen tun könnten. Unsere Spieler sind jung, berühmt und sicher nicht perfekt – aber sie sind keine Primadonnen. Wir sind in der glücklichen Lage, dass viele bescheiden erzogen wurden und einen guten Start ins Leben hatten. Das macht einen Unterschied. Als wir die Familien bei der WM in Katar zu Gast hatten, hatte ich bei niemandem den Eindruck: „Uff, das ist eine Katastrophe.“
Auffällig ist, dass einige englische Leistungsträger mittlerweile bei ausländischen Topklubs spielen, wie Kapitän Harry Kane (FC Bayern), Jude Bellingham (Real Madrid) oder Jordan Henderson (Ajax Amsterdam). Welchen Einfluss hat das?
Gareth Southgate: Jedem tut es gut, in einem anderen Land zu leben. In meiner Trainerzeit bei Middlesbrough (2006-2009) spielte dort Robert Huth, der Deutschland in jungen Jahren verlassen hatte, um zum FC Chelsea zu wechseln. Er wirkte viel reifer als die gleichaltrigen englischen Spieler – weil er sich an ein neues Land anpassen und eine andere Sprache sprechen musste. Historisch haben wir das nicht gut gemacht. Wir sind auf einer Insel und kommen nicht von ihr herunter. Das war ein Problem, weil die Entwicklung unseres Fußballs lange hinter vielen europäischen Ländern zurückblieb. Erst seit einigen Jahren arbeiten Trainer aus ganz Europa in England, sodass wir unser Land nicht mehr zwingend verlassen müssen, um zu lernen. Jedes Wochenende sehe ich in der Premier League die besten spanischen, deutschen und italienischen Trainer. Wir haben eine Fallstudie direkt vor der Nase.
Fragen Spieler denn bei Harry Kane nach, wie die Bundesliga und das Leben in München ist?
Ja, die Spieler mögen es, neue Dinge zu erfahren. Das bringt Energie in die Gruppe. Als Kieran Trippier 2019 als einer der ersten ins Ausland wechselte, zu Atlético Madrid, fragten alle: „Wie ist es dort? Wie sind die Trainer, die Gegner, die Stadien?“ Das hilft uns, wenn wir gegen andere Mannschaften spielen, weil es keine Geheimnisse mehr gibt. Als die englischen Spieler noch alle in England spielten, waren die anderen ein wenig geheimnisvoll für uns. Vielleicht waren wir auch arrogant, hielten uns für besser, als wir waren.
Hätten Sie Bellingham zugetraut, dass er nach seinem Wechsel aus Dortmund zu Real Madrid – für 105 Millionen Euro – dort sofort zu einem Weltklassekicker wird?
Gareth Southgate: Für Jude war es eine positive Sache, außerhalb Englands aufzuwachsen, weil unsere Fußball-Öffentlichkeit herausfordernd sein kann. Er ist hier bei uns immer noch ein bisschen unbekannt, obwohl er über enorme Popularität verfügt. So sind alle begeistert, ihn in der Nationalelf zu sehen. Das wäre anders, wenn er für einen englischen Klub spielen würde.
Wie ist die Zusammenarbeit mit ihm?
In den Gesprächen ging es bisher überwiegend darum, dass er erkennt, wie sich seine Welt verändert hat. Jude kommt zwar mit allem sehr gut zurecht, aber er ist immer noch erst 20. Als ich früher mit David Beckham zusammenspielte, war dessen Welt einfach anders – so wie Judes Welt jetzt auch. Er hat nicht das normale Leben eines 20-Jährigen.
Ist sich Bellingham dessen bewusst?
Auf jeden Fall, er sieht den Unterschied. Aber es wäre nicht normal, wenn es nicht Dinge gäbe, die schwierig sind. Zu Saisonbeginn war er hier (hebt die Hand und deutet ein sehr hohes Niveau an), dann verletzte er sich. So war es für ihn unmöglich, das Niveau über die ganze Saison zu halten. Hoffentlich kann er sie jetzt gut abschließen, damit wir bei der EM eine gute Version von ihm sehen. Zu seinen wichtigsten Stärken gehört seine Mentalität. Sie erinnert mich ein wenig an die von Steven Gerrard, sie strahlt auf die Mannschaft ab. Wenn ein Spiel zum Gegner abdriftet, kann Jude das Match wieder an sich reißen und den Unterschied ausmachen.
Gehört Bellingham bereits zu den Führungsspielern der Nationalelf?
Sicher! In der Art, wie er spielt, scheinen seine Führungsqualitäten durch. Als uns im letzten Testspiel (2:2 gegen Belgien) die älteren Spieler fehlten, waren Jude und Declan Rice die Stimmen, die man hören konnte. Es wird eine natürliche Entwicklung sein, dass sie bald Führungspositionen einnehmen. Trotzdem zeigen sie Respekt vor älteren Spielern wie Kane oder Henderson. Ich kann mir vorstellen, dass Jude bei Real mit Hochachtung gegenüber Toni Kroos und Luka Modric auftritt. Er versteht, dass er von ihnen lernen muss, aber zugleich kämpft er um seinen Platz. Es gibt also ein Gleichgewicht zwischen dem Respekt, den er diesen Kollegen entgegenbringt, und der Einstellung: „Ich bin hier, um zu spielen.“
Wie sehen Sie die Situation Ihres Kapitäns Kane bei den Bayern?
Gareth Southgate: Er wird enttäuscht sein, dass es nicht für einen Titel gereicht hat. Aber gut für ihn ist die Umstellung, für einen großen Klub zu spielen, wo man jede Woche gewinnen muss. Denn so ist auch unsere Situation. Sobald wir mal nicht gut spielen, ist es eine Katastrophe. Je mehr Spieler dies verinnerlichen, desto besser.
Apropos FC Bayern: Sie sagten mal, es sei ein Unding, dass sich Jamal Musiala für die DFB-Elf entschied – obwohl er für Englands Juniorenteams auflief. Bedauern Sie seine Wahl immer noch?
Für mich war er ein junger Spieler, mit dem ich zwei Türen weiter in der Kabine gesprochen habe. Ich wollte, dass er bei uns bleibt, weil er das Siegtor in einem Finale schießen kann. Aber ich freue mich für ihn, für seine Entwicklung. Er ist ein toller Junge … Wir bedauern es also nicht, sind auch nicht böse. Manchmal profitieren wir, wie bei Declan Rice, ja selbst davon, wenn Spieler für mehrere Länder spielen dürfen.
Ist der aktuelle England-Kader der beste, den Sie bisher hatten?
Ja, weil sich die Mannschaft seit der WM 2022 (Viertelfinal-Aus gegen Frankreich) noch mal weiterentwickelt hat. Wir sind aggressiver und offensiver geworden – und haben mehr Erfahrung. Zudem haben wir eine gute Tiefe im Kader.
Bedeutet diese Qualität, dass Sie die EM gewinnen müssen?
Wir haben noch nie gewonnen, also sollte es keine Last sein (schmunzelt). Wenn ich der Trainer von Deutschland bin, muss ich es mit allen DFB-Teams aufnehmen, die zuvor Turniere gewannen. Aber als wir 2021 im EM-Finale standen, haben wir gemerkt, dass die ganze Nation durchaus eine gewisse Last trägt. Trotzdem sollten sich die Spieler bewusst sein, dass das nicht ihre Schuld ist. Es ist das Problem derjenigen, die seit 50 Jahren leben. Was früher passierte, sollte die heutige Generation als Herausforderung auffassen. Sie kann jetzt Geschichte schreiben.
Wer ist Ihr EM-Favorit?
Gareth Southgate: Darüber lässt sich streiten. Es könnte Frankreich sein, Portugal – und auch wir. Deutschland ebenfalls. In den Viertelfinals der Champions League standen insgesamt 18 deutsche Spieler in den Startaufstellungen, kein anderes Land hatte mehr. Und in einem Spiel kann auch Kroatien Italien schlagen oder Holland Spanien – oder umgekehrt. Diese Teams liegen alle eng zusammen. Für mich ist nicht wichtig, wer Favorit ist, sondern wie wir uns selbst sehen. Wir haben große Abende hinter uns, in denen wir bewiesen haben, was nötig ist, um zu gewinnen.
Ist es Ihre letzte Chance, einen Titel mit England zu holen?
Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass ich nach der EM nicht mehr hier bin, falls wir nicht gewinnen. Insofern wäre es in diesem Fall tatsächlich die vielleicht letzte Chance gewesen. Es ist die Natur des internationalen Fußballs, dass nach jedem Turnier praktisch die Hälfte aller Nationaltrainer gehen. Und ich bin jetzt seit fast acht Jahren da. Ich weiß, dass man der Öffentlichkeit nicht ewig sagen kann: „Nur noch ein bisschen länger …“ Denn am Ende werden die Leute den Glauben an die Botschaft verlieren. Das ist in Ordnung so. Wenn ich ein exzellenter Trainer sein will, muss ich in den großen Momenten liefern.
Wovon hängt ab, ob Sie Ihren nach der EM endenden Vertrag verlängern: vom Turnierverlauf, von der öffentlichen Wahrnehmung, vom Verhältnis zur FA?
Ein bisschen von allem, aber das Wichtigste wird sein, wie ich mich fühle. Ich bin 53, ich hoffe, ich habe noch eine lange Zeit vor mir. Aber es gibt auch eine Menge Dinge im Leben, die ich noch tun möchte.
War es keine Option, vor der EM für Klarheit zu sorgen?
Nein, weil eine Vertragsverlängerung nur Kritik einbringen würde, was wiederum Druck für die Mannschaft erzeugt. England hat das mal mit Fabio Capello gemacht (Verlängerung vor der WM 2010), das sorgte für großes Aufsehen vor dem Turnier. Der Tenor war: Warum jetzt? Man soll sich im Turnier beweisen! Das verstehe ich. Wenn ich erst zwei Jahre hier gewesen wäre und die Leute gesagt hätten, lass uns verlängern, hätte ich eventuell anders darüber gedacht. Aber nach sieben Jahren muss man akzeptieren, dass es anders ist.
Englands Öffentlichkeit verlangt schnelle Erfolge. Dabei beweisen die drei Spitzenklubs der Premier League, dass Kontinuität auf der Trainerposition ein Schlüsselfaktor ist: Jürgen Klopp ist acht Jahre in Liverpool, Pep Guardiola sieben bei Man City, Mikel Arteta vier beim FC Arsenal.
Wenn man lange da ist, bedeutet das, dass man bis dahin genug gewonnen hat – und das hilft beim Aufbau von Dingen. Bei uns ist aber der ganze Verband daran beteiligt, und dann es ist nicht leicht für einen Trainer, ohne die passenden Leute über und neben sich erfolgreich zu sein. Jedes Team muss lernen, wie es gewinnen kann. In der Regel arbeitet man zunächst mit Personen, die nicht Teil dessen sind, woran man selbst glaubt. Dann findet man die richtigen Leute und entwickelt sie weiter. Das ist ein Prozess, für den viele Menschen in der heutigen Welt keine Geduld mehr haben. Aber das ist die Wahrheit darüber, wie Klubs wirklich erfolgreich werden.
Konnten Sie sich vorstellen, so lange Nationaltrainer zu sein?
Nein, weil das nicht viele geschafft haben. Mein Fokus lag auf der Entwicklung der Mannschaft. Wir hatten uns lange auf gestandene Profis verlassen, deshalb haben wir versucht, jungen Spielern eine Chance geben. Arsène Wenger sagt immer zu mir: „Man muss arbeiten, als wäre man zehn Jahre da – auch wenn man morgen schon weg sein kann.“
Was war der Schlüsselmoment?
Gareth Southgate: Der Achtelfinal-Sieg gegen Kolumbien bei der WM 2018, weil wir erstmals seit 2006 wieder ein K.o.-Spiel gewannen – noch dazu im Elfmeterschießen. Das waren zwei große Hürden für England, die wir auf einmal nahmen. Der Moment, als ich mich selbst sicherer fühlte, war, als wir uns für die 2018er-WM qualifizierten und anfingen, junge Spieler einzubauen: Ruben Loftus-Cheek, Joe Gomez, Dominic Solanke und Jordan Pickford, die im November 2017 in den Tests gegen Deutschland und Brasilien debütierten. Von da an konnten wir mutigere Entscheidungen treffen.
Am meisten Gegenwind bekamen Sie nach dem EM-Finale 2021, weil Sie die Talente Marcus Rashford und Jadon Sancho kurz vor dem Ende der Verlängerung erst eingewechselt und gleich fürs Elfmeterschießen nominiert hatten. Beide verschossen, England verlor. Wie denken Sie heute über die Entscheidung?
Die Elfmeter-Statistiken von vielen erfahrenen Spielern waren nicht gut und sind es immer noch nicht. Wenn Raheem Sterling, dessen Bilanz bei rund 30 Prozent liegt, verschossen hätte, hätte ich zu mir gesagt: „Klar, nur 30 Prozent.“ Einige Leute meinten auch, wir hätten keine Wechsel vornehmen oder die Spieler früher einsetzen sollen. Aber Argentinien brachte Paulo Dybala (im WM-Finale 2022) auch erst zwei Minuten vor dem Ende – und der traf im Elfmeterschießen. Darüber redet niemand. Die Entscheidungen des Trainers werden bewertet, wenn das Resultat bekannt ist. Ich muss sie aber vorher treffen.
Und wenn es diesmal wieder ein Elfmeterschießen geben sollte?
Gareth Southgate: Es gibt sicher Dinge in der Vorbereitung, die wir jetzt anders machen würden, aber an der Wahl der fünf Spieler würden wir nicht unbedingt etwas ändern. Ich bin sicher, Marcus würde immer einen Elfmeter in dieser Situation schießen wollen, weil er einer der Besten ist. Und wenn man sich nicht an die Geschichte und das Training hält, warum sollte man dann überhaupt üben und etwas vorbereiten? Wir sind immer gleich verfahren – nur haben wir nicht immer das gleiche Ergebnis erzielt.
Nach Ihrem verschossenen EM-Elfmeter gegen Deutschland 1996 betonten Sie, das Erlebnis werde ewig schmerzen. Könnten Sie die Sache abhaken, wenn England nun just in Deutschland den Titel holt?
Nein, weil es damals nicht nur um mich ging, sondern um alle, mit denen ich zusammenspielte. Über die Spieler, die vor drei Jahren im EM-Finale die Elfmeter verschossen haben, denke ich überhaupt nicht so, denn wir hatten 120 Minuten Zeit, das Spiel zu gewinnen. Die Niederlage war nicht ihre Schuld. Ich selbst hatte hingegen diese blöde Idee in meinem Kopf, dass ‘96 alles meine Schuld war, obwohl wir noch ein Finale hätten bestreiten müssen. Je älter ich werde, desto mehr verstehe ich das. Dennoch trage ich den persönlichen Schmerz in mir, der sich wohl nie ändert.
Was tat mehr weh: 1996 oder 2021?
1996 erhielt ich wahrscheinlich mehr Verständnis in der Öffentlichkeit. 2021 spürte ich mehr die Verantwortung für die Nation und die Kritik – als ob der Zusammenhalt im Land während des Turniers plötzlich verschwunden wäre.
Stimmt es, dass Sie für die EM extra Deutsch lernen?
Gareth Southgate: Ja, ich habe gerade auf der Duolingo-App 70 Tage lang gelernt. Es wäre mir peinlich, nach Deutschland zu reisen und nicht imstande zu sein, einige Wörter aufzuschnappen und die Leute im Hotel zu begrüßen. Als wir unser Quartier besichtigten, konnte ich beim Essen nur „Entschuldigung“ sagen. Ich möchte ein guter Botschafter für die Engländer in Deutschland sein.