Interview mit Pascal Groß

«Die EM ist das Nonplusultra»

27. Feb 2024, 00:00 Uhr

"Fußball fühlt sich für mich nicht wie Arbeit an", sagt Pascal Groß. Aber manchmal sieht sie zumindest so aus, wie hier im Zweikampf mit Crystal-Palace-Verteidiger Joachim Andersen. (Foto: Katie Chan / Imago)

Nach über 200 Erstliga-Spielen für Brighton steht Pascal Groß vor der DFB-Nominierung für die EM 2024. Er spricht über Flexibilität, was er an Toni Kroos schätzt – und warum das Ego in der Nationalelf nichts zu suchen hat.

Interview von Sven Haist, London

Kroos und Groß: Sieht so die deutsche Mittelfeldzentrale bei der Fußball-EM im Sommer aus? Die Kombination aus «Weltstar» und «Worker», wie Julian Nagelsmann die beiden Kandidaten Toni Kroos, 34, und Pascal Groß, 32, vermutlich bezeichnen würde, ist zumindest deutlich wahrscheinlicher geworden, nachdem der Bundestrainer vergangene Woche nicht nur die Rückkehr des Real-Madrid-Regisseurs Kroos in Aussicht gestellt hat. Sondern im Spiegel auch Pascal Groß explizit thematisierte: «Wir werden bei der EM leidenschaftlich verteidigen», kündigte Nagelsmann an, «wir werden mehr Spieler im Kader haben wie Pascal Groß, die sich auch mal für andere reinwerfen, und denen es weniger darum geht, mit einem tollen Pass zu glänzen». Spieler also, die «ein paar Prozent mehr Mentalität einbringen».

Tatsächlich hat sich der Mannheimer Groß zum Inbegriff des Teamspielers entwickelt, seit er im Sommer 2017 für drei Millionen Euro vom FC Ingolstadt nach England zum damaligen Aufsteiger Brighton & Hove Albion gewechselt ist. Die deutsche Öffentlichkeit hat davon erst Notiz genommen, als Groß im vergangenen September erstmals für die Nationalmannschaft nominiert wurde. In England gehört der Mittelfeldspieler bereits einer elitären Spielergruppe an: Kürzlich ist Groß von der Premier League für sein 200. Erstligaspiel mit einer Medaille ausgezeichnet worden. Die deutsche Bestmarke für die meisten Premier-League-Spiele ist längst in Reichweite: Nur Dietmar Hamann (268) und Robert Huth (322) haben mehr absolviert.

Herr Groß, haben Sie sich bei Ihrem Wechsel zu Brighton & Hove Albion vor sechseinhalb Jahren vorstellen können, so lange dort zu bleiben?

Pascal Groß: Nein, das hätte ich auf keinen Fall gedacht. Für mich war der Transfer ins Ausland damals ein riesiger Schritt. Grundsätzlich schaut man als Fußballer nicht weit voraus. Selten bleibt ein Spieler über viele Saisons bei einem Verein. Aber ich bin froh, dass es so gekommen ist, weil meine Station in Brighton eine schöne Geschichte ist.

Was hält Sie an der englischen Südküste?

Die Vision des Vereins überzeugt mich und auch die Chance, in der Premier League zu spielen. Sowohl Brighton als auch die Liga sind stetig gewachsen – und ich habe mich mit dem Klub und der Premier League mitentwickelt.

Ist es denkbar für Sie, Ihre Karriere in Brighton zu beenden? Ihr Vertrag läuft bis Juni 2025.

Ich habe nicht im Kopf, meine Karriere zwingend in Brighton beenden zu müssen. Allerdings hängt für mich mittlerweile – wegen meiner Familie – mehr an einem Transfer als früher. Grundsätzlich ist es für mich denkbar, wieder nach Deutschland zurückzukehren. Ich verfolge die Bundesliga und empfinde sie als interessante Liga mit tollen Klubs – auch wenn die Premier League insgesamt über die besseren Einzelspieler verfügt. Es müsste jedoch ein Projekt sein, das mich sehr reizt.

«Die Bundesliga ist eine interessante Liga»

Wodurch hebt sich Brighton von anderen Klubs ab?

Pascal Groß: Unser Besitzer kommt aus der Stadt, seine Eltern wohnen sogar in meiner Gegend. Dadurch gibt es eine extreme Verbundenheit, die uns ein Alleinstellungsmerkmal verschafft, weil die meisten Klubeigentümer aus fernen Ländern stammen. Außerdem versuchen wir in der täglichen Zusammenarbeit, alles ein bisschen besser zu machen als der Rest, um mit unseren verhältnismäßig kleinen Mitteln auch mit den Topvereinen mithalten zu können.

Nach dem Aufstieg 2017 hat sich der Klub schrittweise in der ersten Liga etabliert und sich in der Vorsaison erstmals für die Europa League qualifiziert.

Die ersten zwei Jahre nach dem Aufstieg waren schwierig, weil es nur um den Ligaerhalt ging. Der Qualitätsunterschied war groß, und wir haben einen altenglischen Fußball gespielt, den ich mir mittlerweile nicht mehr vorstellen könnte (lacht). Zwar standen wir nie auf einem Abstiegsplatz, richtig vorangekommen sind wir als Verein allerdings auch nicht. Deshalb wurde in Graham Potter 2019 ein neuer Trainer verpflichtet, und die Ansprüche wurden nach oben geschraubt. Sonst wären wir auf Dauer wohl hinten runtergefallen.

Die Schusstechnik von Pascal Groß im Wettbewerb zu seinem ehemaligen Brighon-Mitspieler Deniz Undav.

Brighton hat seitdem kontinuierlich Spitzenspieler hervorgebracht, die insgesamt für knapp eine halbe Milliarde Euro verkauft wurden – darunter Alexis Mac Allister (Liverpool), Ben White, Leandro Trossard (beide Arsenal), Yves Bissouma (Tottenham) und Moisés Caicedo sowie Torwart Robert Sánchez (beide Chelsea). Was wäre möglich gewesen, wenn der Klub diese Spieler hätte halten können?

Sicher hätten wir mit den genannten Spielern und unserem jetzigen Trainer Roberto De Zerbi den Spitzenvereinen gefährlich werden können. Aber mit diesem Gedanken beschäftige ich mich nicht, weil wir weiterhin über viel Qualität verfügen und auch gute neue Spieler dazubekommen haben. Ich bin mir auch bewusst, dass es eine Kategorie von Vereinen über uns gibt – und es Teil unserer Philosophie ist, immer wieder Spieler für eine hohe Ablöse zu verkaufen.

Der Italiener De Zerbi ist derzeit einer der angesehensten Trainer auf dem Markt – und wird sogar als möglicher Nachfolger von Pep Guardiola bei Manchester City gehandelt. Was macht ihn aus?

Er stellt die Spieler nicht nach Positionen auf, sondern immer nach ihren Charakteristiken, passend zum jeweiligen Gegner. Da geht es um kleine Details. Ich fühle mich unter ihm wie in einer Fußballschule, ich lerne jeden Tag dazu.

Bisweilen nehmen Sie drei, vier verschiedene Positionen ein – pro Spiel. Ist Ihnen das recht?

Es ist okay für mich, meistens ist es dem Spielverlauf und dem Ergebnis geschuldet. Ich glaube, dass ich sein System sehr gut verstehe und vielseitig bin. Ich sehe die Umstellungen als Vertrauensbeweis des Trainers an, dass ich in mehreren Bereichen verlässlich sein kann.

«Am wohlsten fühle ich mich als Sechser oder Achter»

Welche Position ist Ihnen am liebsten?

Pascal Groß: Am wohlsten fühle ich mich im Mittelfeld, als Sechser oder Achter. In der Zentrale ist mein Spiel schwer ausrechenbar, weil ich sowohl links als auch rechts meine Mitspieler in Szene setzen kann. Auf Außen ist das auf diese Weise nicht möglich. Aber beim 2:1 im Ligaspiel gegen Brentford im Dezember habe ich selbst als Linksverteidiger ein Tor und eine Vorlage beigesteuert, bin teilweise mehr im Strafraum aufgetaucht als unsere offensiven Spieler. Insofern hängt es mit der Spielweise des Gegners zusammen. Manchmal kommt man von einer hinteren Position besser zur Geltung, weil die Verteidiger einen weniger auf dem Schirm haben.

https://www.youtube.com/watch?v=6BZzlynlpRs
Spielszenen von Pascal Groß im Trikot von Brighton & Hove Albion.

Wie hat sich Ihr Stellenwert innerhalb der Mannschaft verändert?

Als ich neu nach England gekommen bin, ging es für mich zunächst einmal nur um den Fußball. Dann bin ich zunehmend in eine Führungsrolle hineingewachsen, in der ich mich nicht nur auf meine eigene Leistung konzentriert, sondern auch versucht habe, meinen Mitspielern und der Mannschaft zu helfen.

Wie tun Sie das?

Indem ich gemeinsam mit unseren anderen erfahrenen Spielern eine gesunde Arbeitsbereitschaft und Mentalität vorlebe. Das ist keine anstrengende Aufgabe für mich. Mit solchen Werten wurde ich erzogen. Bei uns gibt es kein Training, das verschenkt wird. Das hört sich selbstverständlich an, ist aber sehr ungewöhnlich.

Sie sind in Ihrer Laufbahn auch nie lange ausgefallen …

Das stimmt, ich habe Glück mit meinem Körper. Aber auch einen hohen Eigenantrieb. Ich muss mir nie sagen: “Komm jetzt, das Training morgen ist wichtig!” – weil ich mich ohnehin darauf freue. Ich bin wirklich jeden Tag dankbar dafür, dass ich Fußball spielen kann. Auch wenn ich nicht Profi geworden wäre, würde ich jetzt kicken, eben in der Kreisliga. Fußball fühlt sich nicht wie Arbeit an, davon habe ich immer geträumt.

«Die Laufwege von Thomas Müller wirken geniehaft»

Wie viel von Ihrem Spielverständnis ist veranlagt und wie viel erlernbar?

In jungen Jahren hat mir mein Vater …

… der frühere Bundesliga-Verteidiger Stephan Groß, der von 1978 bis 1986 beim Karlsruher SC spielte …

… viel beigebracht, in technischer und taktischer Hinsicht: die Beidfüßigkeit – oder beim Doppelpass nicht dem Ball hinterherzuschauen, sondern den Gegenspieler zu verfolgen. Das kleine ABC des Fußballs, obwohl ein Kind ja nie gern das macht, was es nicht so gut kann (schmunzelt). Da war mein Vater unnachgiebig, weil er wusste, es könnte irgendwann einen riesigen Unterschied ausmachen, wenn das Tempo schneller wird und man nicht darüber nachdenken kann, ob man den rechten oder linken Fuß hernimmt. Dazu versuche ich, viel Wissen von meinen Trainern aufzugreifen, mich mit Kollegen auszutauschen und die Topspieler zu analysieren.

Wen zum Beispiel?

Ich habe mir bei Kevin De Bruyne abgeschaut, in welche Strafraumbereiche er flankt und wie viele Ballkontakte er davor macht. Auch Thomas Müller ist ein interessanter Spieler, weil seine Laufwege geniehaft wirken. Er ist oft an Toren beteiligt, obwohl er es offiziell eigentlich nicht ist – aber er schafft den entscheidenden Freiraum für seine Teamkameraden. Und die Ballsicherheit von Toni Kroos ist unglaublich. Er hat den Ball jederzeit unter Kontrolle, seine Annahme ist fehlerfrei, und das über zehn Jahre auf höchstem Niveau bei Real Madrid. Hinter seinen Pässen steckt stets ein Sinn, da geht es um einen halben Meter hin oder her, je nachdem in welche Richtung seine Kollegen anschließend mit dem Ball vorstoßen sollen.

Diese Spieler eint, dass sie Teamspieler sind, die vor allem ihre Kollegen auf dem Platz glänzen lassen.

Ja, mir ist es wichtig, auch ein Teamspieler zu sein.

Trotz Ihrer konstant guten Leistungen in Brighton sind Sie jahrelang nicht für die Nationalelf beachtet worden. Vergangenen September wurden Sie dann erstmals, noch unter Hansi Flick, berufen – mit 32 Jahren.

Pascal Groß: Die Nominierung war für mich das schönste und größte, was mir als Fußballer je widerfahren ist. Es war mein Lebenstraum, mein Land zu vertreten. Der Anruf des Bundestrainers war unbeschreiblich. Ich war auch ein Stück weit überwältigt, weil ich es nicht glauben konnte. Meine Hoffnung wurde von Jahr zu Jahr kleiner, aber ein letzter Funken war immer dagewesen.

Wie war Ihre erste Länderspielreise?

Ich bin super aufgenommen worden. Trotzdem war eine gewisse Unsicherheit vorhanden, wie das wahrscheinlich üblich ist, wenn man zum ersten Mal in einer neuen Umgebung ist. Das war eine andere Stufe der Aufregung als vor einem Training in Brighton. Ich habe mich erst mal umgesehen und versucht, mich schnell zu integrieren.

Welche Erinnerungen haben Sie an Ihr Debüt – außer der 1:4-Niederlage gegen Japan und der damit verbundenen Ablösung von Hansi Flick?

Es war für mich ein spezieller Moment, das Trikot anzuziehen und eingewechselt zu werden, auch wenn die Begleitumstände nicht so schön waren. Ich habe extremen Respekt vor meinen DFB-Mitspielern, viele sind jahrelang dabei. Ich wollte bescheiden auftreten, zuhören und lernen – und dennoch auch ich selbst sein und zeigen, was ich kann. Das war gar nicht so einfach, weil ich jemand bin, der gern kommuniziert und hilft, aber in diesem Fall habe ich mich naturgemäß erst mal etwas zurückhaltender verhalten.

Wie haben Sie die misslungenen EM- und WM-Turniere der Nationalelf zuvor aus der Distanz wahrgenommen?

Ich habe als Fan immer gehofft, dass wir gewinnen. Natürlich waren es zuletzt keine leichten Zeiten, aber ich bin jemand, der sich immer ein eigenes Bild verschafft.

Und wie ist Ihr Bild vom Team?

Das Potenzial ist enorm, die Spielercharaktere super. Die Herausforderung in der Nationalelf ist aus meiner Sicht, dass wir nur wenig Trainingszeit zusammen haben. Viele Spieler reisen mit ganz unterschiedlichen Fußballansätzen aus ihren Vereinen an. Deshalb ist es kompliziert, auf Anhieb gemeinsam gut zu funktionieren. Da muss man sich schnell anpassen, offen sein und zuhören, wie die Philosophie ist und was von einem erwartet wird. Ich hatte ja sogar drei verschiedene Trainer in den ersten drei Spielen … (lacht).

«Ich werde dort spielen, wo ich gebraucht werde»

Erst Flick, dann Rudi Völler als Interimstrainer, schließlich Nagelsmann. Was erwartet der neue Bundestrainer von Ihnen?

Pascal Groß: So zu sein, wie ich bin: meine Stärken einzubringen, meine Mitspieler in Szene zu setzen und eine gewisse Stabilität herzustellen. Bisher war ich im Mittelfeld das Bindeglied zwischen Abwehr und Angriff. Es war meine Aufgabe, die Offensivspieler in eine gute Position zu bringen und defensiv abzusichern, um der Abwehrkette ein gutes Gefühl zu geben. Diese Position liegt mir grundsätzlich am meisten, aber ich kann auch als Außenverteidiger aushelfen. Ich bin es aus der Premier League gewohnt, gegen die weltweit besten Außenstürmer wie Raheem Sterling, Marcus Rashford oder Mychajlo Mudryk zu verteidigen. Das ist kein Problem. Ich werde auf der Position spielen, wo ich gebraucht werde. Ich bin keiner, der sagt: “Ich spiele aber lieber da oder da!”

«Als 15-jähriger Fan war die WM 2006 wie ein nie endenwollender Urlaub»: Nun könnte Pascal Groß bei der Heim-EM 2024 selbst auf dem Platz stehen. (Foto: Nico Herbertz / Imago)

Zuletzt konnte man in der Nationalelf nicht immer den Eindruck gewinnen, dass jeder so denkt.

Man darf nicht vergessen, dass es immer noch ein Mannschaftssport ist. Im Nationalteam hat das eigene Ego nichts verloren, weil es ein Highlight sein sollte, das eigene Land mit Stolz zu vertreten. Da erfüllt jeder Spieler einen Job für die eigene Nation. Es ist wichtig, dass eine Gemeinschaft entsteht, dass der eine den anderen unterstützt und ihm den Erfolg wünscht. In der kurzen Zeit vor den Spielen geht es darum, Teamgeist aufzubauen und eine Verbindung zu den Kollegen herzustellen.

Sind Sie für diese Dinge besonders sensibilisiert, weil es für Sie eben nicht selbstverständlich ist, für die Nationalelf aufzulaufen?

Das ist menschlich, oder? Alles, was für einen Menschen normal ist, ist normal. Deswegen vergisst man oft, alltägliche Dinge zu schätzen. Wenn man gesund ist, schätzt man die Gesundheit nicht. Wenn es einem dann nicht so gut geht, will man nur wieder gesund werden. Für mich ist eine Nominierung für das Nationalteam nicht normal. Es wird immer ein Privileg bleiben.

Die EM in Deutschland in diesem Sommer ist für Sie damit …

… das Nonplusultra! Ich war als 15-jähriger Fan bei der WM 2006 in Deutschland auf der Straße, das war eine unfassbare Zeit. Auf Leinwänden habe ich die Spiele verfolgt und mich wie in einem nie enden wollenden Urlaub gefühlt: täglich Fußball, und die Euphorie war der Wahnsinn. Ich werde mich immer daran erinnern, das miterlebt zu haben. Nun haben wir eine Riesenchance, wieder so eine Stimmung auszulösen.

Keep on reading

Am Ball bleiben