Jude Bellingham im Portrait
Hilferuf der Überfigur
14. Jul 2024, 01:57 Uhr
Jude Bellingham rettete England mit einem spektakulären Fallrückzieher vor dem Aus im Achtelfinale und soll die Nation nun zum EM-Titel schießen. Das Land feiert ihn als Überfigur und singt bei jeder Gelegenheit den Beatles-Klassiker „Hey Jude“ – doch die Erwartungshaltung ist auch eine Last für den 21-Jährigen.
«Hey Jude», der Welthit der Beatles, erklingt melancholisch im Hintergrund und transportiert die riesige Enttäuschung der Engländer. Zu sehen sind weinende Menschen in Pubs, die fassungslos auf die Bildschirme starren. Ihre Träume sind zerbrochen wie das Geschirr auf dem Kneipenboden. Draussen stapfen Fans in der Nacht nach Hause, einer sitzt kauernd mitten auf der Strasse. Soeben hat England im Penaltyschiessen gegen Deutschland verloren, den EM-Halbfinal 1996 im eigenen Land. Es sei der schlimmste Albtraum, hört man den Kommentator sagen, und der Experte pflichtet ihm bei, jeder fühle den extremen Schmerz. Aber, hey Jude, England werde doch sicher stärker zurückkommen. In diesem Moment schneidet das Kurzvideo um, das Bild wird körnig, und ein Bursche dribbelt mit dem Ball am Fuss über einen Bolzplatz, es ist Jude Bellingham.
Dann schreit eine Stimme aus dem Off, der Ball falle vor die Füsse von Jude Bellingham – und der schiesst ihn selbstverständlich ins Tor. Jubel bricht aus, die Leute liegen sich in den Armen, und Bier spritzt durch die Luft. «Na na na nananana, hey Jude», singt England Bellingham in einem vollen Stadion zu. Am Ende steht in Grossbuchstaben über dem Bild seines Gesichts: «You got this!», du schaffst das. Der Adidas-Werbespot inszenierte Bellingham vor der Europameisterschaft als englische Überfigur und suggerierte, dass es wenn schon ihm zuzutrauen sei, das Nationalteam zum ersten Triumph seit dem WM-Heimsieg 1966 zu führen.
Jude Bellingham gelingt im Achtelfinale ein Tor, das dem fiktiven im Werbespot nahekam
Tatsächlich gelang dem Mittelfeldspieler im Achtelfinal gegen die Slowakei ein Tor, das seinem fiktiven im Video ziemlich nahekam: Er rettete England per Fallrückzieher unmittelbar vor Abpfiff in die letztlich gewonnene Verlängerung und bewahrte sein Land damit vor einer Schmach, die weiteres Porzellan zerschlagen hätte. Dem Tor haftete ein Zauber inne, der es zu einem ikonischen Treffer in Englands Fussballhistorie macht. Es würde sogar für immer mit dem ersten englischen EM-Titel in Verbindung bleiben, sollte der Mann aus Birmingham mit den Kollegen am Sonntag gegen Spanien den ersten Final ausserhalb des eigenen Landes gewinnen.
An keinem Spieler lässt sich der Turnierverlauf der Engländer besser nachzeichnen als an Jude Bellingham. Spätestens seit seinem spektakulären Scherenschlag gehört er zu den prägenden EM-Gesichtern – mit 21 Jahren. Er ist Englands Fussballer mit der grössten Reichweite, noch vor dem Captain Harry Kane und dem Offensiv-Virtuosen Phil Foden. Die Fachleute halten ihn wegen seiner Spielkunst neben Kylian Mbappé (Frankreich) und Erling Haaland (Norwegen) für den Thronfolger der demnächst abtretenden Fussballkönige Lionel Messi und Cristiano Ronaldo.
England und Real Madrid – daraus ging schon der Global Player David Beckham hervor
Der Aufstieg zum Fussballstar nahm durch Bellinghams Klubwechsel von Borussia Dortmund zu Real Madrid für 105 Millionen Euro im Sommer 2023 Fahrt auf. Bei Real scheint er dafür auserkoren zu sein, in die Fussstapfen des legendären Zehners Zinedine Zidane zu treten. Dass Bellingham so schnell das internationale Interesse auf sich zieht, liegt neben seiner exponierten Rolle auf dem Platz auch an seiner englischen Herkunft. Aus der seltenen Zusammenkunft des bekanntesten Fussballklubs, Real Madrid, und der bekanntesten Fussballnation, England, war schon zuvor mit David Beckham einer der wenigen Global Player hervorgegangen. Keiner der fünf Engländer, die vor Bellingham für Real spielten, war jünger.
Nach seiner ersten Saison bei den Königlichen, in der er auf Anhieb die Champions League gewann, wirkte Jude Bellingham körperlich beinahe ausgelaugt und nicht reif genug, um gleich die Verantwortung bei der Nationalelf zu tragen. Er gestand, sich «komplett tot» zu fühlen. Es hörte sich an wie ein Hilferuf, den Anspruch an ihn für die EM zu reduzieren. In der Heimat geriet er in die Kritik, und sein Stammplatz wurde trotz seiner individuellen Klasse infrage gestellt.
„Who else?“, brüllte Jude Bellingham nach dem Tor seinen Frust heraus
Die Situation setzte ihm zu. Seinen Frust liess er nach dem Fallrückziehertor los. Er brüllte «Who else?» in die Kameras, zu Deutsch: Wer ausser mir hätte diesen Treffer erzielen sollen? Dazu leistete er sich eine obszöne Jubelgeste, für die er mit einer 30 000 Euro teuren Geldstrafe und einer auf Bewährung ausgesetzten Spielsperre bestraft wurde. Die Aktion werteten Kritiker als Indiz, Bellinghams Selbstbewusstsein sei genauso schnell gewachsen wie seine Bekanntheit.
Doch Gareth Southgate hielt zu ihm. Jude Bellingham sei ein junger Kerl und reagiere auch wie einer, rechtfertigte der Nationaltrainer das Verhalten des Spielers. Vor dem Viertelfinal gegen die Schweiz stellte Southgate das System um, Bellingham agiert nun zusammen mit Foden als Spielmacher hinter Kane. Die Idee glich einer Initialzündung, auch weil sich der Druck durch das Weiterkommen im Turnier zunehmend von dem jungen Spieler löste. Die Nation schloss Jude Bellingham wieder ins Herz, glaubt an ihn – und singt bei jeder Gelegenheit «Hey Jude».