England vor der EM 2024

Eiszeit in England

09. Jun 2024, 16:19 Uhr

Noch fehlt das richtige Timing: Harry Kane vergibt die beste englische Chance gegen Island. (Foto: Paul Chesterton / Imago)
Noch fehlt das richtige Timing: Harry Kane vergibt die beste englische Chance gegen Island. (Foto: Paul Chesterton / Imago)

Der englische Nationaltrainer Gareth Southgate verzichtet in seinem EM-Kader auf langjährige Stammkräfte wie Harry Maguire, Jack Grealish und Marcus Rashford. Er strich die Spieler ohne Rücksicht auf ihre Namen und Verdienste. Der letzte Test gegen Angstgegner Island misslingt.

Von Sven Haist, London

Die Reaktionen der Engländer nach dem Duell mit dem kleinen Fußballfisch Island aus dem Nordatlantik erinnerten unweigerlich an die berühmt-berüchtigte Schmach gegen denselben Gegner im Achtelfinale der EM 2016. Die Nationalspieler liefen allesamt bedröppelt über den Platz, die wenigen Fans, die bis zum Schluss im Stadion geblieben waren, pfiffen das Team um Trainer Gareth Southgate aus – und die erbarmungslosen Boulevardblätter in England brodelten wie isländische Vulkane. Am härtesten teilte die Sun aus: Die Zeitung spottete in Anlehnung an das 1:2 gegen Island (engl. Iceland) vor acht Jahren: „Return of the Ice Age“, die Rückkehr der Eiszeit.

Zwar verlor England am Samstagabend abermals ernüchternd gegen Island, diesmal 0:1 durch ein Tor von Jón Dagur Thorsteinsson aus der Anfangsphase. Allerdings handelte es sich für die Engländer zum Glück nur um ein Testspiel – wobei im notorisch aufgeregten Mutterland des Fußballs grundsätzlich jede Partie wie ein Finale bewertet wird. Und so reisen die Three Lions mit gemischten Gefühlen zur EM nach Deutschland.

Das Spiel der Engländer wirkte, als wollte sich keiner mehr vor der EM verletzen

Bei der unkonzentrierten und zaghaften Darbietung gegen beherzt zupackende Isländer wirkte England mit den Gedanken schon beim Turnier, zum Auftakt wartet am Sonntag Serbien. Die Spieler schienen sich nicht übermäßig verausgaben zu wollen, weder in den Zweikämpfen noch beim Torabschluss. Die beste Chance rutschte Kapitän Harry Kane durch, als er den Ball nach einer Flanke unmittelbar vor der Torlinie nur mit dem Schienbein traf. Der Telegraph hatte dafür kaum Verständnis, der Auftritt des Nationalteams sei „zerzaust“ gewesen und „nahe an die Selbstsabotage früherer Jahre“ herangekommen, hieß es gleich im ersten Satz des Spielberichts.

In der Analyse versuchte Southgate, die Gemüter zu beruhigen und seine Spieler zu schützen. Er kenne die Gründe für die Spielleistung und wisse, was zu tun sei. Dass den Engländern insbesondere Timing und Intensität fehlte, ließ sich plausibel erklären. Nach einer kräftezehrenden Saison müssen die Spieler erst wieder in den Rhythmus kommen. Zudem wollte sich nach der zuvor bekanntgegebenen Kadernominierung für die EM ziemlich offensichtlich niemand mehr verletzen. Die Mannschaft ist ohnehin schon durch genügend Blessuren beeinträchtigt.

England könnte ohne Probleme zwei EM-Teams stellen

Der Konkurrenzkampf im Team hat den Spielern in den vergangenen Wochen einiges abverlangt. Obwohl das Aufgebot 26 Akteure umfasst, sah sich Southgate bei der Wahl der Mannschaft erheblichem Overboarding ausgesetzt. Das Reservoir an talentierten Spielern ist so groß, dass England ohne Probleme auch zwei konkurrenzfähige Teams für die EM stellen könnte. Schon den ersten 33-Mann-Cut für das Trainingslager hatten zahlreiche gestandene Nationalspieler nicht überstanden. Zu dieser Gruppe zählten die international renommierten Jadon Sancho, Marcus Rashford, Jordan Henderson, Raheem Sterling, Ben Chilwell, Reece James, Mason Mount und Eric Dier. Ihre Namen sind derart klangvoll, dass sie von fast keinem Fachmann infrage gestellt worden wären, wenn Southgate sie berufen hätte.

Vor der zweiten und finalen Auswahl traf es nochmals drei Hochkaräter, die jeweils bei der WM 2022 noch im Aufgebot gestanden hatten: Jack Grealish von Manchester City, Harry Maguire von Manchester United und James Maddison von Tottenham Hotspur. Seine schwierigste Entscheidung dürfte der Verzicht auf den beliebten Grealish gewesen sein. Dem in dieser Saison schwächelnden Linksaußen zog er die derzeit formstarken Anthony Gordon und Jarrod Bowen vor.

Vier Crystal-Palace-Spieler bilden den größten Block im Nationalteam

Als Auswahlkriterium zog Southgate konsequent den aktuellen Leistungsstand heran. Dies veranschaulichte die Benennung von vier Spielern des Mittelklasseklubs Crystal Palace, die den größten Block im Aufgebot bilden, sowie der Umgang mit der Personalie Maguire. Der Abwehrhaudegen zählte seit Jahren zu den Stammspielern im Team, Southgate stärkte ihm in kritischen Momenten immer wieder den Rücken.

Doch diesmal schien ihm das Risiko zu groß zu sein, weil Maguire aufgrund einer Wadenverletzung wohl frühestens ab dem Achtelfinale einsatzbereit wäre. Er könne lediglich ein Wagnis eingehen, erklärte der Trainer – und sprach sein Vertrauen stattdessen dem Linksverteidiger Luke Shaw aus, dessen Rückkehr bereits in der Vorrunde erwartet wird. Die Sun kommentierte, dass Southgate noch so viele cremefarbene Strickwaren am Seitenrand tragen könne, um kuschelig zu wirken. Er sei in der EM-Vorbereitung „äußerst rücksichtslos“ gewesen. Die betroffenen Spieler nahmen den Beschluss enttäuscht, aber anstandsvoll entgegen. Maguire postete auf Instagram, dass er „am Boden zerstört“ sei und dennoch die Mannschaft „als Fan“ unterstützten werde. Insgesamt nimmt England die EM mit zwölf Spielern auf, die nie zuvor bei einem großen Turnier mitgewirkt haben.

Harry Maguire reagiert auf seine Nicht-Nominierung für die EM.

England gilt trotz des letzten Eindrucks als Mitfavorit auf den Titel. Das Land muss sich diesmal auch nicht vor dem Angstgegner Island fürchten. Die Isländer sind für die EM nicht qualifiziert.

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