Harry Kane und der Titelfluch
Wieder das Kreuz
15. Juli 2024, 19:39 Uhr

Harry Kane hat alle wichtigen Trophäen in seiner Laufbahn gewonnen – aber immer nur als Torschützenkönig. Die EM-Finalniederlage gegen Spanien ist das sechste verlorene Endspiel seiner Karriere. Dabei gelingen ihm nur elf Ballkontakte – auch weil ihn seine Rückenbeschwerden wohl mehr beeinträchtigt haben, als er zugibt.
Kaum hatten Harry Kane und seine Mitspieler der englischen Nationalmannschaft ihre Silbermedaillen erhalten, sollten sie sich in einen abgesteckten Bereich am Spielfeldrand des Berliner Olympiastadions begeben, um von dort die Ehrung der neuen Europameister zu verfolgen. Der Korridor hielt für Kane neben der freien Sicht auf den Pokal eine weitere Gemeinheit bereit, als wäre das 1:2 (0:0) gegen Spanien nicht schon schlimm genug gewesen: Er befand sich im Blickfeld der Fotografen. Um sich der Beobachtung zu entziehen, schlich sich Kane hinter die Kameraobjektive. Er wollte allein sein mit seinem riesigen Herzschmerz.
Zwar hat der Stürmer des FC Bayern alle bedeutenden Trophäen in seiner Laufbahn gewonnen, die der Welt- und Europameisterschaft, der Champions League, Premier League und Bundesliga – aber stets nur als Torschützenkönig. Mit seinen Teams wartet er weiterhin auf den ersten Titel. Die Pleite am Sonntag war sein sechster vergeblicher Anlauf, ein Finale zu gewinnen. Wahrscheinlich war es sogar die bitterste Niederlage in seiner Karriere, aus dem einfachen Grund, dass ein Sieg die vorherigen Endspiele wohl vergessen gemacht hätte, unter anderem das tragische Elfmeterschießen der EM 2021. Mit dem Pokalgewinn wäre Kane wohl ein Platz im Olymp des englischen Fußballs zugewiesen worden, direkt neben dem Ehrenspielführer Bobby Moore, der die Männer als bisher einziger bei der Heim-WM 1966 zu einem Triumph führte.
In der 61. Minute geht Harry Kane vom Feld – seine zweitfrüheste Auswechslung in einem Turnier
Während sich die Spanier ihre Auszeichnungen abholten, nahm sich Kane in der Ferne die um den Hals baumelnde Silbermedaille ab. Die neuerlich verpasste Chance sei extrem schmerzhaft, gab er zu, das werde lange, lange wehtun. Konsterniert verharrte er eine ganze Zeit auf dem Spielfeld, die Hände in die Hüften gestemmt, die Augen glasig, sein Blick abschweifend. Er sah ähnlich hilflos aus wie zuvor in der Partie, als er bis zu seiner Auswechslung in der 61. Spielminute – seiner zweitfrühesten in einem Turnier – nur elf Mal den Ball berührt hatte. Immerzu war er einen Schritt zu langsam gewesen, in seinen zwei auffälligsten Szenen handelte er sich eine gelbe Karte ein und setzte einen Torschuss ab, der geblockt wurde.
Sein geringer Einfluss auf das Offensivspiel der Engländer im Finale hatte sich schon im gesamten Turnierverlauf abgezeichnet und hatte wohl mehrere Gründe. Kane litt unter der konservativen Taktik der Mannschaft, in der sich generell nur wenige Spieler nach vorn einschalteten. So bekam er kaum Pässe und Flanken in Tornähe, um seine Abschlussqualität einzubringen. Auch das Zusammenspiel mit den Antreibern Phil Foden und Jude Bellingham kam zu selten in den Fluss. Die drei Ausnahmekönner scheinen sich in ihren Anlagen zu sehr zu entsprechen.
Fragen nach seinem Fitnesszustand wich Harry Kane aus
Vor allem wirkte Kane nicht im Vollbesitz seiner Kräfte. Zwei Tage vor dem Champions-League-Rückspiel mit den Bayern gegen Real Madrid soll er sich bei einer Rotationsbewegung in einer Stabilitätsübung eine Art Hexenschuss zugezogen haben. Die Rückenbeschwerden klangen bis zum Spieltag hin ab, doch beim Aufwärmen vor dem Real-Match waren sie dem Vernehmen nach erneut aufgetreten. Angeblich mithilfe von Schmerztabletten soll er versucht haben, die Probleme zu unterdrücken, mühte sich durchs Spiel, bis der Rücken kurz vor Schluss ganz zumachte. Fragen zu seinem Zustand wich der Angreifer nach dem Finale aus, es sei jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um über persönliche Dinge zu sprechen. Jeder sei bei einer EM an der Belastungsgrenze und habe mit Blessuren zu kämpfen, meinte Kane. Schon zuvor hatte er sich auffallend vage über seine Fitness geäußert. Dass er bei den Bayern am Saisonende ausgesetzt hatte, wollte er in der Turniervorbereitung größtenteils als „Vorsichtsmaßnahme“ verstanden wissen.
Allerdings hinterließ Harry Kane im Vergleich zu seinem üblichen Bewegungsablauf zuletzt den Eindruck, eingeschränkt zu sein, ihm fehlte die Mobilität. Besonders offensichtlich war das im Kopfballspiel, in dem es bisweilen wirkte, als springe er nicht richtig hoch, vielleicht aus der unterbewussten Sorge heraus, ihm könnte es wieder in den Rücken stechen. Gegen die spanischen Innenverteidiger Aymeric Laporte und Robin Le Normand setzte er sich kaum durch und gewann gerade mal 19 Prozent seiner Zweikämpfe. Dabei gelten der seit einem Jahr für al-Nassr in Saudi-Arabien spielende Laporte und der beim spanischen Verein Real Sociedad angestellte Le Normand auf ihrer Position auch nicht unbedingt als unüberwindlich.
Schon im Champions-League-Finale 2019 war Kane angeschlagen
Die Situation erinnerte an das Champions-League-Finale 2019, als Kane mit seinem Kindheitsklub Tottenham Hotspur dem FC Liverpool unterlag. Anderthalb Monate vorher hatte sich der Angreifer einen Bänderriss im Sprunggelenk zugezogen. Obwohl sichtbar gehandicapt und ohne Spielpraxis wollte Kane unbedingt auflaufen – und sein damaliger Tottenham-Trainer Mauricio Pochettino, der ihn genauso schätzt wie Englands Nationaltrainer Gareth Southgate, gab seinem Drängen nach. Kane setzte dann, wie fast alle seine Teamkollegen an diesem Tag, kaum einen Akzent gegen Liverpool.
Die Boulevardzeitung Sun kommentierte angesichts der vielen unglücklichen Umstände und Resultate in Finalspielen, die Pokalmisere des bald 31-Jährigen gleiche einem Fluch. Tatsächlich wartet sowohl sein Langzeitverein Tottenham, der noch nie Premier-League-Meister wurde, als auch England seit Jahrzehnten auf einen bedeutenden Triumph. Beiden Mannschaften haftet der Ruf an, in Drucklagen das Pech anzuziehen. Um sich seine Titelträume noch zu erfüllen, war Kane im vergangenen Sommer für 100 Millionen Euro zum FC Bayern gewechselt. Doch der Seriensieger gewann in der vergangenen Saison fast schicksalhaft keine Trophäe, erstmals seit zwölf Jahren. Harry Kane benötigt nun mehr denn je jemanden, der ihm die Richtung zu einem Titel weist. Den Weg der Verlierer kennt er zur Genüge.

«Ich glaube nicht an Märchen, aber an Träume»
Gareth Southgate findet vor dem EM-Finale poetische Worte, die für immer mit einem möglichen Triumph der Engländer verbunden bleiben könnten. Die Pressekonferenz verläuft weitaus kurzweiliger als so manches englisches Spiel. Aber es wird auch deutlich, wie viel für das Mutterland des Fußballs gegen Spanien auf dem Spiel steht.