Interview mit Peter Moore über Jürgen Klopp
«Jürgen Klopp könnte jedes Unternehmen führen»
18. Mai 2024, 04:38 Uhr
Peter Moore war als Geschäftsführer an den größten Erfolgen von Jürgen Klopp beim FC Liverpool beteiligt. Zum Abschied spricht er über gemeinsame Pints, was Klopp mit Bill Gates gemein hat – und warum der Deutsche jede Firma führen könnte.
Der Abschied von Jürgen Klopp als Trainer des Liverpool Football Club beschäftigt auch Persönlichkeiten aus anderen Bereichen. Der Gitarrist Eric Clapton spielte kürzlich auf einem Konzert die Klubhymne „You’ll never walk alone“ und betonte, der Einschub sei „Für Jürgen“ gewesen. Fast überall wird in England auf Klopps achteinhalbjährige Amtszeit zurückgeblickt. Am Sonntag (17 Uhr) steigt tatsächlich sein letztes Spiel: Liverpool empfängt Wolverhampton in Anfield. Das Match wirkt wie Hintergrundmusik. Die Fans kommen nicht wegen der Partie ins Stadion, sondern um sich bei Klopp zu bedanken.
Zu den aktiven Augenzeugen der Trainer-Ära Klopp gehört Peter Moore, 69, in Liverpool geboren und aufgewachsen. Als Geschäftsführer des Vereins arbeitete der frühere Reebok-, Microsoft- und EA-Sports-Manager von 2017 bis 2020 mit dem Deutschen zusammen. Sie verantworteten die größten Erfolge seit Jahrzehnten: 2019 den Champions-League-Titel und 2020 die langersehnte Premier-League-Meisterschaft. Obwohl die Führungsriege um den US-Klubbesitzer John Henry, der seine Anteile über die Fenway Sports Group (FSG) bezieht, öffentlich kaum in Erscheinung tritt, sagt Peter Moore ein Gespräch über Klopp sofort zu – denn der habe alle Anerkennung verdient.
BTL: Mister Moore, wie und wo haben Sie im Januar davon erfahren, dass Jürgen Klopp aufhört?
Peter Moore: Ich habe aus irgendeinem Grund um zwei Uhr nachts ein Rätsel auf meinem Handy gemacht, als ich bei mir daheim in Kalifornien im Bett lag. Dabei ploppte die Benachrichtigung des Klubs auf. Ich habe meine Frau geweckt, die auch eng mit Jürgen und dessen Frau Ulla befreundet ist. Wir waren fassungslos, traurig und schockiert.
Und dann sind Sie schlafen gegangen?
Nicht wirklich, ich lag die Nacht wach. Mein Telefon blinkte die ganze Zeit auf mit Nachrichten von Familienangehörigen und Freunden, die alle fragten: „Hast du die Nachricht gesehen?“ Ich war Stunden damit beschäftigt, ihnen zu antworten, dass es für mich genauso eine Überraschung gewesen war wie für sie. Der frühe Zeitpunkt in der Saison hat uns zumindest die Gelegenheit gegeben, einige Monate lang das zu feiern, was er für den Klub, die Stadt und die weltweite Fangemeinde geleistet hat.
Wie ist es Klopp und dem Klub gelungen, diese Breaking News wochenlang geheim zu halten?
Peter Moore: Es waren nur eine Handvoll Entscheidungsträger eingeweiht. Selbst viele Leute im Verein, die ihm nahestehen, hatten keine Ahnung. Ich dachte wie viele andere, dass es erst mal mit ihm weitergehen würde. Er hat eine sehr gute, wettbewerbsfähige junge Mannschaft auf die Beine gestellt. Es war eine aufregende Saison bis dahin – aber dass alles in bester Ordnung war, hat ihn eventuell dazu bewogen aufzuhören. Denn ich glaube nicht, dass er den Klub in einer schwierigen Phase verlassen hätte.
Klopp begründete die Entscheidung damit, dass sein Tank zur Neige gehe. Können Sie das nachvollziehen?
Und wie! Der Klub ist eine Weltmarke. Trainer von Liverpool zu sein, bedeutet nicht nur, jeweils 90 Minuten am Seitenrand zu stehen. Man hat lokale und globale Verpflichtungen. Dazu muss man mit der Last der Historie, des Erfolgs und der Erwartungen umgehen. Die Emotionen von Hunderten Millionen liegen auf den eigenen Schultern. Liverpool ist im Vergleich zu anderen Klubs insofern besonders, als Trainer mehr verehrt werden als Spieler.
Warum ist das so?
Liverpool ist eine klassische Arbeiterstadt, gebaut als wichtiger Hafen in der viktorianischen Ära. Seitdem gab es harte Zeiten, tolle Zeiten und wieder harte Zeiten. Unsere Fußballmänner in den roten Trikots, auf die wir uns jeden Samstagnachmittag freuen konnten, waren quasi alles, was wir hatten. Und die Trainer haben uns durch die traurigen und tragischen Phasen gebracht. Ihr Status war fast religiös, wir behandelten sie beinahe als unser Eigen. Einige Coaches waren dem nicht gewachsen. Aber diejenigen, die es waren, blieben in Erinnerung. Ihre Gesichter sind auf Fahnen gedruckt, die auf der Kop (Kulttribüne in Anfield; Anm. d. Red.) geschwenkt werden – so wie das Konterfei der Legenden Bill Shankly und Bob Paisley.
Wie füllt Klopp diese Rolle aus?
Peter Moore: Er ist ein Mann, der in jedem Moment alles gibt, nicht nur für seine Mannschaft, sondern auch für alle anderen Belange des Liverpool FC. Er tut dies auf einfühlsame, rührende und wortgewandte Art, was den Leuten gefällt. Das hat mit seinem Intellekt zu tun. Er versteht den Klub einfach. Jürgen kam von Borussia Dortmund, einem Volksverein, der in seiner Struktur ähnlich aufgebaut ist wie Liverpool. Dort hat er mitgenommen, was der Fußball den Menschen bedeutet. Er wurde dann auch hier schnell ein Teil des Klubs, er sprach davon, aus Zweiflern Gläubige zu machen. Aber sein Vermächtnis geht über Liverpool weit hinaus.
Wie meinen Sie das?
Er wurde eine respektierte Person im ganzen englischen Fußball – und brach zudem alle deutschen Klischees, die wir Briten über Humorlosigkeit, Unnachgiebigkeit und Stoizismus im Kopf hatten. Ich kann mir jedenfalls keinen Deutschen vorstellen, der beliebter ist als Jürgen Klopp. Jeder möchte ihn als Trainer haben, trotz der ausgeprägten Fußballrivalitäten.
Warum können sich viele Fußballfans auf Klopp als gemeinsamen Nenner verständigen?
Weil er sich nicht davor scheut, den Status quo infrage zu stellen: Er bemängelt die Qualität der Schiedsrichter, kritisiert den dichten Terminkalender, die Belastung der Spieler, die Verbände, die TV-Sender und das Establishment – obwohl er dafür bisweilen hart angegangen wird. Er hat die Fähigkeit, Dinge zu durchdenken und seinen Standpunkt mit Argumenten zu begründen. Er ist während seiner gesamten Zeit in Liverpool das Aushängeschild des englischen Fußballs gewesen, weil er sich immerzu für ihn eingesetzt hat.
Erinnern Sie sich noch an Ihr erstes Gespräch?
Ja, es war ein klassisches Jürgen-Klopp-Treffen. Ich bin zu ihm nach Hause gefahren, und wir sind dann mit seiner Frau und seinem Assistenten Peter Krawietz in ein Pub bei ihm um die Ecke gegangen. Es begrüßten ihn zwar alle möglichen Leute, aber niemand war aufdringlich. Dann habe ich mich vorgestellt und erklärt, was ich zuvor gemacht habe, weil ich zu dieser Zeit im Fußball relativ unbekannt war. Wir hatten eine tolle Zeit und tranken einige Pints.
Wie hat sich die Zusammenarbeit dann entwickelt?
Peter Moore: Ich habe ihn regelmäßig gesehen und gesprochen, vor allem an Spieltagen und auf den gemeinsamen Auswärtsreisen. Allerdings habe ich mich aus dem sportlichen Bereich herausgehalten. Ich bin nie in die Kabine gegangen, weil Leute mit Krawatte dort nichts zu suchen haben.
Sie haben sich dann ums Geschäft gekümmert, er um die Mannschaft.
Wir waren beide der in Boston ansässigen Fenway Sports Group unterstellt, die ein amerikanisches Bild auf die traditionellere Welt des Fußballs übertrug. Wir hatten klar definierte Zuständigkeitsbereiche in Bezug auf die Struktur und Organisation des Klubs.
Die FSG ist als Inhaber der Boston Red Sox eng mit dem Baseball verbunden.
Sie haben versucht, die in dieser Sportart gemachten Erfahrungen auch im Fußball anzuwenden. Die Statistiken sind dort entscheidend. Im Fußball ist das schwieriger, weil es ein fließendes Spiel ist. Trotzdem sind Daten wichtig. Wir hatten zahlreiche promovierte Mitarbeiter in unserer Scouting- und Recruitment-Abteilung. Dazu eine Menge weiterer Analysten und Sportwissenschaftler, die alle Daten in ihre Entscheidungen einfließen ließen, um am Ende Spieler wie Mohamed Salah, Sadio Mané, Virgil van Dijk und Alisson Becker auszugraben.
Ist eine weitere Qualität von Jürgen Klopp, dass er starke Mitarbeiter akzeptiert und ihnen vertraut?
Peter Moore: There you go! Ich habe für einige der größten Geschäftsleute der Welt gearbeitet, Bill Gates, Steve Ballmer, Paul Fineman. Sie sind alle wunderbare Gründer und CEOs und haben eine Eigenschaft gemeinsam: Sie umgeben sich mit den klügsten Leuten, die sie finden können – und insbesondere mit Leuten, die ihre eigenen Lücken ausfüllen. Jürgen ist genauso, er wäre in jeder Branche ein erstklassiger CEO, nicht nur im Fußball. Er hat alle Eigenschaften, um ein Unternehmen zu führen: Er kann durch Empathie und Motivation das Beste aus den Mitarbeitern herausholen und erkennt gleichzeitig ihre Leistungen an. Er vermittelt ihnen glaubhaft, dass es nicht nur er allein ist – wie man es häufig erlebt.
Das ist wahrscheinlich einer der Gründe, warum sich kaum ein Spieler je negativ über Klopp geäußert hat.
Junge, unglaublich wohlhabende Menschen, die im Rampenlicht stehen, benötigen ein gutes Management. Damit meine ich Führung, Schmeicheleien, Hilfe und gelegentlich auch kleine Standpauken. Ich halte es für eine der großartigsten Leistungen von Klopp, dass er eine Menge Nachwuchsspieler bei den Profis eingebaut hat.
Die Klubbesitzer haben Klopp am Anfang viel Geduld und Vertrauen bei der Neuausrichtung der Mannschaft entgegengebracht.
Ja, diese Unterstützung hat Jürgen erhalten, weil er die Herausforderungen verstand, eine belastbare Verbindung zur FSG pflegte und die Fans hinter sich brachte. Liverpool ist wie ein Öltanker, bei dem es Zeit in Anspruch nimmt, ihn zu wenden. Tatsächlich lief das sogar schneller ab, als es zu erwarten gewesen war.
Über den FSG-Chef John Henry und seine Partner Tom Werner und Mike Gordon ist wenig bekannt. Was für Figuren sind das?
Unglaublich klug. John kommt zum Beispiel aus dem Börsengeschäft und hat sein Vermögen aufgebaut, indem er Dinge vorhersehen konnte, die kein anderer sah. Er hat ein ruhiges Auftreten und eine große Liebe zum Sport …
… der FSG gehören auch das Eishockey-Team Pittsburgh Penguins und der Nascar-Rennstall RFK Racing …
… das hat sich alles über die vergangenen Jahre entwickelt, weil FSG den Weitblick hatte, Liverpool zu kaufen, als der Klub 2010 in Schwierigkeiten steckte. Die vorherigen US-Eigentümer hatten alles in den Sand gesetzt, aber FSG sagte den Fans: Ja, wir sind auch Amis, aber anders. Sie führen den Verein auf eine sich finanziell selbsttragende Art, unter Beachtung aller Regeln und Vorschriften.
Trotz des Erfolgs stehen auch viele Liverpool-Fans der Firma kritisch gegenüber.
Peter Moore: Ich selbst hatte ebenfalls während meiner Zeit so manche Probleme und Differenzen mit meinen Vorgesetzten, gerade in Bezug auf die Haltung zu den Fans. Vielleicht habe ich mich manchmal zu sehr für sie eingesetzt. Aber ich spürte, was getan werden musste, um sie mehr mitzunehmen.
Warum fällt es den FSG-Leuten so schwer, auf die Bedürfnisse der eigenen Anhänger einzugehen?
Schwer zu sagen. Ich komme aus der Welt der Videospiele, wo der Umgang mit den Gamern entscheidend ist. Sonst zerlegen sie einen. Als ich nach Liverpool kam, gab es ein paar Unsicherheiten gegenüber den Eigentümern. Es hieß: „Wir sehen sie nicht oft. Verstehen die uns? Werden sie nur den Wert des Klubs in die Höhe treiben und ihn dann verkaufen?“ Ich sah es als meine Aufgabe an, Vermittler zu sein. Ich bin abends zu den Liverpool Supporters Clubs gegangen, von denen es mehr als dreihundert gibt, um dort Fragen zu beantworten und ein gemeinsames Bier zu trinken. Damit waren die Besitzer manchmal nicht einverstanden.
Als FSG kürzlich die Ticketpreise für die nächste Saison erhöhte, gab es massive Proteste im Rahmen des Europa-League-Heimspiels gegen Atalanta Bergamo (0:3). Wie haben Sie das wahrgenommen?
Das Timing war nicht gut, auch wenn das Management kaum eine andere Wahl hatte. Als ich die Ankündigung sah, schauderte ich ein bisschen. Wir nennen das Stahlhelm-Zeit, weil Feuer garantiert ist. Die Rebellion der Fans ging sogar so weit, dass sie die Fahnen gegen Bergamo nicht schwenkten und die Stimmung mies war – und das an einem Europapokalabend.
Trotz der Pleite vermied es Klopp, die Besitzer hinterher zu kritisieren.
Jürgen gelingt es immer wieder, auf die Fanbedürfnisse einzugehen und gleichzeitig Verständnis für die Eigentümer aufzubringen, weil er ihnen unterstellt ist. Ein großer CEO wird immer die Schuld auf sich nehmen mit Phrasen wie „Das geht auf mich“ oder „Ich bin dafür verantwortlich“. Was hinter verschlossenen Türen passiert, ist eine andere Geschichte. Ich verstehe beide Seiten, die Wut der Fans und dass der Klub weiter wachsen muss, weil das Geschäft ein klassischer Kreislauf ist: Wer mehr Geld verdient, kauft bessere Spieler und gewinnt mehr Spiele.
Grundsätzlich fällt auf, dass Klopp den eigenen Klub stets genauso verbissen verteidigt, wie er seine Gegner attackiert. Das kann ziemlich unangenehm sein.
In diesem Fall bedingt das eine das andere. Er kann sich wirklich aufregen, um es gelinde zu formulieren (schmunzelt).
Ein paar empfindliche Niederlagen hat er hingegen gut weggesteckt, darunter zwei knapp verpasste Meisterschaften und die verlorenen Champions-League-Finals 2018 und 2022.
Peter Moore: Ich erinnere mich daran, wie er nach der 2018er-Pleite auf dem Rückweg im Flugzeug sagte: „Wir kommen zurück!“ – statt enttäuscht auszusteigen und Fehler zu kritisieren. Eine Führungskraft nutzt Rückschläge immer als Lernmomente. Und er versucht auch, das Positive zu betonen.
Welche Wichtigkeit hatte es dennoch, dass die Anstrengungen irgendwann in Titel mündeten?
Es braucht Pokale, daran gibt es keinen Zweifel. Aber große Fußballklubs sind größer als Gewinnen und Verlieren, sie sind immun dagegen, ihre Fans zu verlieren. Viele Leute werden kritisieren, dass es nur zu einer Meisterschaft mit Liverpool gereicht hat – aber die Freude, die er gebracht hat, ist etwas, was ich nie vergessen werde. Wie sagte der große Bill Shankly einst: Der ultimative Test ist, ob man die Leute glücklich gemacht hat. Das wird Klopps Vermächtnis sein: Er hat die Menschen glücklich gemacht.