Klopp verlässt Liverpool

Klopps Tank ist fast leer

26. Jan 2024, 22:00 Uhr

Auf Händen getragen: Jürgen Klopp nach dem Champions-League-Sieg 2019. In Liverpool steht er auf einer Stufe mit den Trainerlegenden Bill Shankley und Bob Paisley. (Foto: Shutterstock / Imago)
Auf Händen getragen: Jürgen Klopp nach dem Champions-League-Sieg 2019. In Liverpool steht er auf einer Stufe mit den Trainerlegenden Bill Shankley und Bob Paisley. (Foto: Shutterstock / Imago)

In einer emotionalen Botschaft verkündet Jürgen Klopp seinen Abschied als Trainer vom Liverpool FC zum Saisonende. Durch seinen fließenden Übergang vom Spieler- zum Trainerdasein hat er sich nie eine Pause gegönnt.

Sven Haist, London

Nichts schien der Liverpool Football Club seit einiger Zeit konsequenter zu verdrängen als den Gedanken an einen möglichen Rücktritt von Jürgen Klopp. Die Fans des ewigen Leidenschaftsvereins hofften, dass der deutsche Trainer auf ewig am River Mersey tätig sein würde. Und vermutlich hätte auch Klopp den ihm ans Herz gewachsenen Klub am liebsten für immer trainiert. Doch die Anstrengungen der mehr als acht Jahre in Liverpool sind nicht spurlos vorübergezogen. Und so tat Klopp am Freitagvormittag das, was sich bisher niemand vorstellen konnte und vor allem auch nicht wollte: Er reichte seinen Rücktritt zum Saisonende ein.

In einer emotionalen, fast halbstündigen Videobotschaft wandte sich der 56-Jährige an die weltweite Anhängerschaft des Klubs. Schon im ersten Satz ließ sich erkennen, wie schwer ihm die Verkündung dieser Entscheidung gefallen war. Mit ziemlich wackliger Stimme sagte Klopp, er “müsse” seinen Reds, den Roten, etwas mitteilen. Anschließend sprach er jene Worte aus, die in Liverpool so zeitlos bleiben dürften wie seine persönliche Vorstellung als “The Normal One” im Oktober 2015: “I will leave the club at the end of the season.”

Die Fans empfinden den Klopp-Abschied wie den Verlust eines Familienmitglieds

Er, Klopp, könne nachvollziehen, dass diese Nachricht “für viele Menschen ein Schock” sein werde, wenn sie diese zum ersten Mal hörten. Und in gewisser Weise schien sie auch Klopp selbst zu schockieren. Er rieb sich nervös die Hände und musste zweimal ansetzen, um sein Statement fortzusetzen.

Er saß auf einem Stuhl in einem riesigen Raum, trug weiße Turnschuhe, blaue Jeans und einen grauen Pullover, dahinter war das Trainingsgelände des Vereins zu sehen. Die Atmosphäre wirkte genauso bedrückt wie der graue Himmel im Hintergrund. Klopp und Liverpool sind über die gemeinsame Zusammenarbeit so eng zusammengewachsen, dass sie mittlerweile kaum mehr voneinander zu trennen sind. Den Abschied kommt für die Fans dem Verlust eines Familienmitglieds gleich.

Anders als bisweilen war Klopp diesmal bemüht, in Auftreten und Äußerungen die Rationalität über die Emotionalität zu stellen. Er möchte damit wohl auch verhindern, dass die bisher erfolgreiche Saison für den FC Liverpool – den aktuellen Tabellenführer der Premier League, der soeben auch das League-Cup-Finale gegen den FC Chelsea im Wembley-Stadion im Februar erreicht hat – zu einer Gefühlsduselei wird. Wohl wissend, dass sie das ohnehin werden dürfte.

“Wenn man mich fragt, ob ich jemals wieder als Trainer arbeiten werde, würde ich jetzt Nein sagen”, sagt Klopp

So versuchte Klopp angestrengt sachlich, den einen Grund für seinen Rückzug zu erläutern: Ihm gehe die Energie aus. Er verglich sich mit einem konkurrenzfähigen Sportwagen (“nicht der beste, aber ein sehr guter”, witzelte er), der zwar nach wie vor 180 Meilen pro Stunde fahren könne, aber dessen Tankfüllung langsam zur Neige gehe. Und er, Klopp, sei derjenige, der dies auf dem Tacho als einziger erkennen könne: “Ich weiß, dass ich meine Arbeit nicht immer und immer weitermachen kann.” Mit dem Entschluss gehe es ihm “absolut gut”, betont er.

Durch seinen fliessenden Übergang vom Spieler- zum Trainerdasein im Februar 2001 beim FSV Mainz 05 hat sich Klopp keine wirkliche Pause gegönnt. Lediglich nach seiner Vertragsauflösung bei Borussia Dortmund befand er sich für gerade mal drei Monate nicht in einem Dienstverhältnis, von Juli bis September 2015. Vor einem Jahr bestritt er sein 1000. Spiel als Trainer, womit er einem elitären Kreis angehört, den noch immer Manchester-United-Legende Alex Ferguson mit den meisten Matches anführt (über 2000). Zu lange habe er, sagte Klopp, aufgrund seines Dauereinsatzes “kein normales Leben” führen können, das möchte er nun ändern. An irgendeinem Punkt müsse er also den Absprung wagen – und dies sei nun der richtige Moment.

Sogar ein Karriereende sei möglich, sagte Klopp

Klopp schloss zugleich aus, dass er im Sommer eine neue Aufgabe übernehmen wird. “Kein Verein, kein Land für die nächste Saison”, sagte er, und bekräftigte auch, in Zukunft nie einen anderen englischen Klub als Liverpool zu trainieren. “Das kann ich versprechen”, fügte er später auf einer Pressekonferenz vor dem FA-Cup-Spiel gegen Norwich City am Sonntagnachmittag an. Sogar ein Karriereende sieht er als möglich an. “Wenn man mich fragt, ob ich jemals wieder als Trainer arbeiten werde, würde ich jetzt Nein sagen.”

Seinen Rücktritt hatte Klopp den Klubbesitzern, der in Boston ansässigen Investmentfirma Fenway um den Vorsitzenden John Henry, schon im vergangenen November mitgeteilt. Indem er die öffentliche Verkündung aufschob, konnte sich das Management in Ruhe auf die einschneidende Umstellung vorbereiten. Neben Klopp werden auch seine engsten Mitstreiter, die Assistenten Peter Krawietz, Pepijn Lijnders und Vitor Matos, den Verein verlassen. Auch der deutsche Sportdirektor Jörg Schmadtke, den Klopp für den Kaderumbruch vor dieser Saison zusätzlich verpflichten ließ, hört bereits in wenigen Tagen auf. Damit deutet sich in Liverpool im Hinblick auf die neue Spielzeit eine ähnliche Zeitenwende an wie einst, als Klopp übernommen hat.

Klopps Vermächtnis in Liverpool wird auch sein, die Mannschaft runderneuert und im Aufschwung zu übergeben

Seinerzeit revitalisierte Klopp den strauchelnden LFC, der kurz zuvor den prestigeträchtigen Status als englischer Rekordmeister an Manchester United verloren hatte. Mit einem bis dahin in England unbekannten Angriffsstil, dem sogenannten Gegenpressing, für den im Mutterland des Fußballs erst mal ein neuer Begriff eingeführt werden musste (“counter pressing”), führte er den Klub aus dem Mittelmaß zur alten Größe zurück.

Klopp holte 2020, trotz des vom Emirat Abu Dhabi finanziell dauersubventionierten Konkurrenten Manchester City, als erster Liverpool-Trainer seit Kenny Dalglish eine englische Meisterschaft, die erste des Klubs in der Premier-League-Ära überhaupt – nach 30 Jahren. Eine Saison zuvor hatte Klopp mit den Reds nach mehreren vergeblichen Anläufen den ersten Titel gewonnen, die Champions League, durch ein 2:0 gegen Tottenham Hotspur in Madrid. Ausgerechnet in Madrid, in jener Stadt, deren zwei Klubs, Real und Atlético, ihm international die schmerzhaftesten Niederlagen zugefügt haben – besonders Real bei den Finalpleiten in der Königsklasse 2018 und 2022.

Bei letzterem Finaleinzug stand Klopp mit dem LFC kurz davor, sogar alle möglichen Pokale auf einmal zu gewinnen, ein historisches Titelquartett. Nach den Erfolgen im League Cup und FA Cup, die Klopps Titelsammlung am River Mersey komplettiert hatten, behielt allerdings City in einer dramatischen Meisterschaftsentscheidung am letzten Spieltag um einen Punkt die Oberhand, und anschließend auch Real im Finale.

Die Bedeutung von Klopp definiert sich in Liverpool über seine Beziehung zu den Menschen

Ein mindestens so großes Vermächtnis von Klopp wie jene Erfolge ist es, die zuletzt in die Jahre gekommene Mannschaft runderneuert an einen noch unbekannten Nachfolger zu übergeben. Klopp hört ja nicht spontan auf einem der vielen Höhepunkte auf, und auch nicht in einer der seltenen Schaffenskrisen, in die sein Team manchmal fiel, wie in der von Verletzungen geplagten Vorsaison – sondern im Aufschwung.

Trotzdem definiert sich die Bedeutung von Jürgen Klopp in Liverpool, einer noch immer sozialistisch angehauchten Stadt, vor allem über seine Beziehung zu den dort lebenden Menschen. Er wirkte stets wie einer von ihnen, vertrat und beschützte sie – und hat daher wohl als einziger auch das Recht, sie zu kritisieren, wenn ihm der grundsätzlich ohrenbetäubende Lärm im Stadion mal wieder nicht laut genug war. So wird er beim Liverpool Football Club auf einer Stufe mit den unsterblichen Trainern Bill Shankly und Bob Paisley in die Historie eingehen. Auch bei diesen beiden wollte niemand, dass sie jemals aufhören.

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