England und Jürgen Klopp

Englands Lieblingsdeutscher

28. Jan 2024, 14:25 Uhr

Obowhl Jürgen Klopp zum Saisonende den Liverpool FC verlässt, wird er immer bleiben - als Ehrenbürger der Stadt. Hier ist er auf einem Straßengemälde in Liverpool zu sehen. (Foto: David Rawcliffe / Imago)
Obowhl Jürgen Klopp zum Saisonende den Liverpool FC verlässt, wird er immer bleiben - als Ehrenbürger der Stadt. Hier ist er auf einem Straßengemälde in Liverpool zu sehen. (Foto: David Rawcliffe / Imago)

Der Abschied von Jürgen Klopp beim Liverpool FC ist nicht nur ein Verlust für den Klub und die Stadt – sondern für das ganze Land. Er gleicht momentan dem kleinsten gemeinsamen Nenner des englischen Fußballs.

Sven Haist, London

Im November 2022 wurde Jürgen Klopp mit einem Titel ausgezeichnet, der sich nicht in seiner Funktion als Trainer von Liverpool mit seiner Mannschaft erspielen lässt. In einer feierlichen Zeremonie bekam der Deutsche im Liverpooler Rathaus am Hafen den Orden “Freedom of Liverpool” verliehen, das höchste Abzeichen der Stadt. Die historische Ernennung zum Ehrenbürger Liverpools als erst dritter nichtbritischer Staatsbürger nach dem Freiheitskämpfer Nelson Mandela und dem Künstler Jean-Luc Courcoult dürfte die größte Anerkennung gewesen sein, die Klopp in England bisher zuteilgeworden ist. Sichtlich überwältigt sagte er damals, dass er zwar plane, irgendwann wieder nach Deutschland zurückzukehren, aber er die Würdigung für immer in Ehren halten werde.

In der Laudatio lobte Liverpools damalige Bürgermeisterin Joanne Anderson die von Klopp “immer wieder gezeigten seltenen Eigenschaften der Menschlichkeit, Bescheidenheit und Herzlichkeit”. Als Vorsitzende der fußballverrückten Stadt werde sie oft gefragt, welchem Klub sie die Daumen drücke. Die Wahrheit sei, erzählte Anderson, dass sie sich nicht wirklich für die Sportart interessiere – und trotzdem Jürgen Klopp liebe. Und so empfinden es wohl die meisten Menschen. Sie können sich ungeachtet ihrer Lieblingsklubs auf Klopp verständigen, er gleicht zurzeit dem kleinsten gemeinsamen Nenner des englischen Fußballs – ungefähr so, wie es einst die verstorbene Queen Elizabeth für das ganze Vereinigte Königreich gewesen ist.

“The Normal One”: Das ist Jürgen Klopp immer geblieben

Daher wurde der am Freitag von Klopp unerwartet angekündigte Rücktritt zum Saisonende wie ein riesiger Verlust aufgefasst, nicht nur für den Liverpool FC und die Premier League, sondern auch für das Land. Die Financial Times widmete ihm einen Leitartikel, in dem er als “Vorbild in einer Zeit, in der es an bewundernswerten Führungspersönlichkeiten mangelt”, bezeichnet wird. Seine Art der Teamführung halte “zahlreiche Lektionen für Wirtschaftsbosse und Politiker” bereit. Denn Klopp behandele Spieler und Mitarbeiter “als Menschen und nicht bloss als Instrumente für seinen eigenen Erfolg”, fand die Zeitung.

Und tatsächlich definiert sich das Wirken von Jürgen Klopp in Liverpool mehr über ihn als Person als über seine zahlreichen Erfolge als Coach. Das hebt ihn von anderen Trainern seiner Güteklasse ab. Er ist ein “people’s man”, wie es im Englischen heißt: ein Mann des Volkes. Zu Beginn seines Engagements auf der Insel im Oktober 2015 stellte sich Klopp der Öffentlichkeit als “the normal one” vor, als Normalo. Dieses Versprechen hat der 56-Jährige bis heute gehalten. Sein wesentlicher Charakterzug, aus dem sich alle weiteren seiner Eigenschaften ableiten lassen, scheint es zu sein, immerzu glaubwürdig die Interessen der breiten Bevölkerung zu vertreten und dafür auch den Konflikt mit den Instanzen über ihm nicht zu scheuen.

Jürgen Klopp gibt sich nicht als unfehlbarer Leader aus – sondern respektiert die eigenen Grenzen

Dabei vertritt er mitunter Standpunkte, die nicht immer der allgemeinen Meinung entsprechen. Er kritisierte die eigenen Klubbesitzer für die Beteiligung an der versuchten und letztlich gescheiterten Gründung einer Superliga, setzt sich gegen den Turbokapitalismus seiner Berufssparte ein – und er teilt Ansichten zu Themen außerhalb des Fußballs.

So beanstandete Klopp den von Unwahrheiten beförderten Austritt des Königreichs aus der Europäischen Union (“ergibt überhaupt keinen Sinn”), und er forderte ein zweites Referendum. “Lasst uns noch mal darüber nachdenken und mit den richtigen Informationen abstimmen”, sagte er dem Guardian. Dabei besitzt Klopp das Gespür, die eigenen Grenzen zu erkennen und sich nicht als unfehlbarer Universalanführer auszugeben. Während der Corona-Pandemie verfügte er, dass sich Leute ohne Wissen wie er selber nicht öffentlich dazu äussern sollten. Er sei nur ein Fußballtrainer, der eine Baseballkappe trage und schlecht rasiert sei, betonte er.

Durch sein Charisma, zu dem Überzeugung, Bodenständigkeit und Schlagfertigkeit gleichermaßen beitragen, ist eine bemerkenswerte Nähe zwischen Klopp und den Menschen entstanden. Und den Eindruck bestätigt er durch seine Zugänglichkeit. Er schottet sich in Liverpool nicht ab, sondern geht auf die Bedürfnisse der Fans ein. Seine obligatorische Jubelfaust nach Siegen scheint er mehr den Anhängern zuliebe zu zücken, als um sich selber in den Mittelpunkt zu stellen. Soeben bot er dem unheilbar kranken Trainerkollegen Sven-Göran Eriksson an, seinen Liverpool-Job für einen Tag zu übernehmen, als dieser angab, es sei sein Traum gewesen, den Klub einmal zu trainieren.

“Klopp ist ein Mensch, der Emotionen benötigt und geniesst”, sagt Christian Heidel

Klopps verbindende Gesinnung verfängt in einer Welt, die sich auseinanderdividiert, insbesondere im sozialistisch angehauchten Liverpool – und vormals in den ebenso wenig von Eliten geprägten Dortmund und Mainz, wo er jeweils sieben Jahre tätig gewesen war. “Klopp ist ein Mensch, der Spektakel und Emotionen benötigt und geniesst”, sagte der Funktionär Christian Heidel einmal der Süddeutschen Zeitung. Heidel machte Klopp zum Trainer in Mainz. Aus diesem Grund sei dieser eher kein Coach “für einen Retortenklub”. Seit je sei Klopp “gefühlt nach jedem Spiel” zu den Fans gegangen, weshalb ihn heute nur noch wenige Menschen in Mainz “nach einem Foto fragen” würden – weil alle schon eines haben.

Die Beziehung zwischen Jürgen Klopp und seinen Vereinen ist durchgehend so eng, dass seine positiven Eigenschaften manchmal ins Gegenteil ausschlagen können. Meistens dann, wenn er das Vertrauen der Spieler und des Managements in ihn von Dritten attackiert sieht – sei es durch Schiedsrichterentscheidungen oder die öffentliche Berichterstattung. In diesem Fall nutzt Klopp seine Aura fast ohne Rücksicht, um seine Interessen zu wahren. Trotz seiner Wortgewalt, mit der er schon manche Reputation von Referees und Reportern beschädigt hat, trägt ihm das kaum jemand dauerhaft nach – anders als er das selbst bisweilen tut.

Die Leute gönnen ihm den sportlichen Erfolg und die damit verbundenen jährlichen Millioneneinnahmen, weil er sie nie zu vergessen scheint und seinen Reichtum nicht zur Schau stellt. Aus diesem Grund werden ihn die englischen Fußballfans in Zukunft wohl ähnlich vermissen wie er selber den Liverpool Football Club.

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