Machtwechsel bei United

Ratcliffe zieht den Goldesel

27. Dez 2023, 06:00 Uhr

Erfüllt sich einen Kindheitstraum: Jim Ratcliffe steigt als Minderheitsbesitzer bei Manchester United ein. (Foto: Peter Byrnex / Imago)
Erfüllt sich einen Kindheitstraum: Jim Ratcliffe steigt als Minderheitsbesitzer bei Manchester United ein. (Foto: Peter Byrnex / Imago)

Ineos-Chef Jim Ratcliffe sichert sich für 1,2 Milliarden Euro die sportliche Hoheit bei Manchester United. Damit steht der Klub vor einem lang ersehnten Umbruch. Die Besitzerfamilie Glazer verdient allerdings weiter mit.

Sven Haist, London

Den Fans von Manchester United erging es zuletzt wie Kindern an Weihnachten. Sie zählten die Tage herunter bis zur großen Bescherung – in diesem Fall, bis der Verein bekanntgeben würde, dass Jim Ratcliffe eine Minderheitsbeteiligung mit der unbeliebten Besitzerfamilie Glazer ausgehandelt und sich damit die Entscheidungsgewalt über die Sportbelange gesichert hat. Und wann, wenn nicht an Heiligabend, hätte es soweit sein sollen?

Dass der Manchester United Football Club den vielbeachteten Machtwechsel tatsächlich am 24. Dezember verkündete, ließ sich kaum anders interpretieren, als sei in Old Trafford ein Heilbringer erschienen. Als diesen möchte sich Ratcliffe wohl auch verstanden wissen. Und sicher würde niemand bestreiten, dass der dauerkriselnde Klub einen solchen dringend notwendig hat nach dem schlechtesten Saisonstart seit Menschengedenken. Englands Rekordmeister ist in der Premier League nur Tabellenmittelmaß und scheiterte kürzlich als Gruppenletzter in der Champions League.

1,25 Milliarden Euro – so viel Geld investierte bisher niemand in eine Minderheitsbeteiligung im Fußball

Ratcliffe, Gründer und Vorsitzende des Petrochemie-Konzerns Ineos, einigte sich mit den Glazers in sich über Monate ziehenden zermürbenden Verhandlungen darauf, mit sofortiger Wirkung bis zu 25 Prozent des Klubs zu erwerben – für astronomisch anmutende 1,2 Milliarden Euro. Damit ist United trotz Verbindlichkeiten von über einer Milliarde inklusive ausstehenden Transferzahlungen der aktuell am wertvollsten gehandelte Sportverein der Welt. Ohnehin ist im Fußball bis hierhin noch nie so viel Geld für eine Minderheitsbeteiligung ausgegeben worden.

Die Feinheiten des spektakulären Geschäfts zeigen, welche Komplexität dem Einstieg von Ratcliffe zugrunde liegt. Die Klubaktien sind in zwei Klassen gesplittet, A und B, wobei B-Aktien (110 Millionen) die zehnfachen Stimmrechte von A-Aktien (53 Millionen) haben. Das A-Paket ist hauptsächlich im Besitz vieler verschiedener Investoren und wird am New York Stock Exchange gehandelt. Das B-Paket befindet sich ausschließlich in den Händen der sechs Glazer-Nachkommen, die den ruhmreichen Traditionsbetrieb 2014 von ihrem verstorbenen Vater Malcolm geerbt hatten. Über dieses Aktien-Konstrukt können sie den Klub kontrollieren. Und jedes Geschwisterkind kann dabei stets die eigenen B-Aktien frei veräußern – ohne dass die Käufer danach irgendeinen Einfluss auf die Klubpolitik nehmen könnten, weil diese bisher beim Verkauf immer zu A-Aktien geworden sind.

Der Kaufpreis liegt deutlich über dem aktuellen Marktniveau

Die Abmachung mit Ratcliffe sieht nun vor, dass diese Umwandlung diesmal nicht stattfindent, dass die Glazers also erstmals einen durchaus beträchtlichen Teil ihrer Entscheidungshoheit abgeben: 25 Prozent der B-Aktien. Zudem bietet Ratcliffe im Rahmen einer öffentlichen Ausschreibung allen A-Aktieninhabern an, dass er auch von ihnen 25 Prozent übernimmt. Zum jeweiligen Stückpreis von 33 Dollar, obwohl der Aktienkurs bei Börsenschluss am Freitag gerade mal bei 20 Dollar lag. Mit dieser lukrativen Offerte soll offenbar die Gunst der bisherigen Anteilseigner gewonnen und ein reibungsloser Ablauf des Deals gewährleistet werden.

Die Transaktion schließt Ratcliffe über die ihm vollumfängliche gehörende und von Ineos unabhängige Unternehmung Trawlers Limited ab. Sie hat ihren Sitz auf der Isle of Man, einer England vorgelagerten Steueroase in der Irischen See. Der Firmenname ist mutmaßlich eine Anspielung auf ein unvergessenes Zitat der United-Legende Eric Cantona, dem Lieblingsspieler des in Stadionnähe aufgewachsenen Ratcliffe. Cantona hatte einst in einem Gerichtsverfahren aufgrund seines Skandaltritts gegen einen Stadionzuschauer vor sich hin philosophiert, dass Möwen immer den Hochseefischern und ihren Schiffen (engl. trawler) folgen würden, weil sie annehmen, dass Sardinen ins Meer geschmissen werden. In diesem Fall dürfte Cantona die Presse als Möwen, sich selbst als Fischer und seine aufsehenerregenden Lebensgeschichten als Sardinen betrachtet haben.

Den Kaufbetrag entrichtet Ratcliffe, einer der vermögendsten Briten überhaupt, aus eigener Tasche. Dieser Information war im United-Statement überraschend ein eigener Absatz gewidmet worden. Damit wollte Ratcliffe wohl jedem United-Fan klarmachen, dass er auf keinen Fall dieselbe Torheit begeht wie seinerzeit Senior Glazer. Der hatte den Verein zwischen 2003 und 2005 schrittweise für ungefähr 900 Millionen Euro erworben und einen stattlichen Teil der Summe auf das bis dahin stets schuldenfreie United als Kredit umgelegt. Seitdem sind die Glazers bei der Anhängerschaft mindestens unten durch.

Ratcliffe wird die Kaufsumme – anders als einst die Glazers – aus eigener Tasche entrichten

Daran wird sich voraussichtlich nichts mehr ändern, obschon es den Glazers durchaus ein Bedürfnis zu sein scheint, in Zukunft mit weniger abwertenden Augen in Manchester begutachtet zu werden. Sonst hätten sie gewiss nicht folgende spitzfindige Formulierung in die gemeinsame Verlautbarung mit Ratcliffe einbauen lassen: Darin heißt es, dass der hinter Ratcliffe stehende und seit geraumer Zeit in den Sport investierende Ineos-Konzern einem Antrag des United-Vorstands, also der Glazers, stattgegeben habe, die Verantwortung für das Fußball-Management des Vereins zu übernehmen. Die Abfassung wirkt, als wollten die notorisch unwissenden Glazers ihren Rückzug aus diesem Bereich als ihre eigene Idee glaubhaft machen.

Dabei besteht der Reiz für Ratcliffe freilich einzig und allein darin, den Verein nach seinen Vorstellungen umgestalten und sich damit vermutlich profilieren zu können. Denn trotz Ratcliffes Verdiensten um die britische Wirtschaft, die ihm einen Königsorden einbrachten, hat seine Beliebtheit in der Heimat gelitten. Der 71-Jährige unterstützte leidenschaftlich den Austritt der Briten aus der Europäischen Union. Und verlegte dann 2020, als sich der Brexit vollzog, seinen Wohnsitz ins steuergünstige Monaco. Auch Ineos steht oft in der Kritik: Dem Unternehmen wird unterstellt, mit seinen Millioneninvestitionen in den Sport, beispielsweise ins Formel-1-Team Mercedes, von den ökologischen Auswirkungen des eigenen Kerngeschäfts abzulenken. Ineos weist alle Vorwürfe zurück und begründet die Tätigkeit mit „Liebe zum Sport“

Eine zusätzliche Viertelmilliarde stellt Ratcliffe für die marode Infrastruktur bereit

Für seinen Kindheitstraum von einer Fußball-Tätigkeit sowie dem damit einhergehenden Prestige, Einfluss und Ansehen ist Jim Ratcliffe also bereit, den Goldesel namens Manchester United zu ziehen, wenngleich die Glazers nach wie vor prominent auf ihm sitzen und mitverdienen. Er verpflichtete sich über die Aufwendungen des Aktienerwerbs hinaus, eine zusätzliche Viertelmilliarde Euro bis Ende 2024 für das sanierungsbedürftige Stadion Old Trafford bereitzustellen. Im Gegenzug soll er weitere Aktien-Pakete erhalten. Auch die in die Jahre gekommene Trainingsakademie in Carrington würde wohl eine Renovierung vertragen. In beiden Fällen wirkt sogar ein Neubau unumgänglich, er würde Kosten in Milliardenhöhe verursachen.

Solche Beträge möchten die der Rendite zugewandten Glazers nicht selbst aufbringen. Bezeichnenderweise gaben die beiden Vereinsvorsitzenden Avram Glazer und Joel Glazer an, dass Ratcliffe im Zusammenspiel mit Ineos „eine Fülle an kommerzieller Erfahrung sowie ein beträchtliches finanzielles Engagement“ einbringen werde. Ratcliffe scheint das überteuerte Geschäft nichts auszumachen: Er hat gennügend Geld, um die 20 Milliarden.

Ineos-Sportchef Brailsford dürfte eine Schlüsselrolle zufallen

Uniteds Kernproblem seit dem Rücktritt des Trainermythos Alex Ferguson 2013 hat Ratcliffe bereits erkannt. In der Pressemitteilung analysierte er messerscharf, der kommerzielle Erfolg des Vereins habe zwar immer dafür gesorgt, dass genügend Kapitel für sportlichen Erfolg vorhanden gewesen wäre – aber dieses Potential sei „nicht vollständig ausgeschöpft“ worden. Um den Klub wieder zu alter Stärke zu führen, verwies er auf das „globale Wissen, die Expertise und die Talenten“ seines Ineos-Netzwerks. Eine Schlüsselrolle im Tagesgeschäft dürfte dabei David Brailsford zukommen, der bei Ineos seit 2021 das Sportportfolio beaufsichtigt. Brailsford gilt als Mastermind hinter den Siegen der britischen Radfahrer – sowohl als GB-Teamchef bei den Olympischen Spielen 2012 in London als auch danach in gleicher Funktion beim Radsportteam Sky, das Ineos später erwarb.

Das erste Zeichen für den unausweichlich bevorstehenden Personalumbruch bei United ist der kürzlich angekündigte Rücktritt des bisherigen Geschäftsführers Richard Arnold zum Jahresende. Die Zukunft des umstrittenen Fußballchefs John Murtough dürfte ebenfalls bald auf den Prüfstand geraten, wie die des viel kritisierten Trainers Erik ten Hag und die der hinter den Erwartungen bleibenden Spielern. In den vergangenen zehn Jahren hat United überwiegend erfolglos 1,8 Milliarden Euro für Spielerablösen verprasst, davon 450 Millionen in der seit 2022 währenden Zeit von ten Hag.

Allerdings steht der gesamte Übernahme-Deal noch unter dem Vorbehalt der üblichen behördlichen Genehmigungen und der Ratifizierung durch die Premier League. Die Prüfung erstreckt sich angesichts der Vielschichtigkeit des Geschäfts vermutlich auf mehrere Wochen, in denen Ratcliffe formal keinen Einfluss besitzt. Aber auf diese Zeit scheint es jetzt auch nicht mehr anzukommen – angesichts dessen, wie lange die Fans bereits warten mussten.

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