Manchester United siegt in Anfield
Das Empire schlägt zurück!
01. Nov. 2025, 17:04 Uhr

Manchester United siegt erstmals seit knapp zehn Jahren beim Erzrivalen in Anfield – weil Trainer Amorim das Team aufgerappelt hat und die Sommertransfers funktionieren. Für die neue Widerstandsfähigkeit steht der altbekannte Harry Maguire.
Harry Maguire stand allein vor den Fans und wollte den Moment nicht enden lassen. Eine halbe Ewigkeit verharrte der Abwehrspieler von Manchester United an Ort und Stelle, erschöpft, aber glücklich und sichtlich bewegt. Vielleicht hatte Maguire, 32, der im Spätherbst seiner Laufbahn alle Höhen und Tiefen auf dem Rasen erlebt hat, selbst nicht mehr daran geglaubt, eines Tages als Sieger das Stadion an der Anfield Road zu verlassen. Letztmals hatte United beim Erzrivalen FC Liverpool vor fast zehn Jahren gewonnen. So wurde Maguire, der bereits 2019 von Leicester City kam und auch dort nie in Liverpool drei Punkte geholt hatte, als einer der dienstältesten United-Profis zur Symbolfigur der Auswärtsmisere in Anfield, weil er stets dabei war. Am Sonntagabend aber verblassten diese trüben Erinnerungen hinter dem 2:1 (1:0) für Manchester, bei dem ausgerechnet Maguire – so fair ist der Fußball dann doch – in der 84. Minute per Kopf den Siegtreffer erzielte.
Das Ende der Sieglosserie in Liverpool sei „lange überfällig“ gewesen, ein herausragender Tag für alle, die es mit United halten, konstatierte Maguire erleichtert: „Es heißt immer: Es sind nur drei Punkte, aber heute bedeutet es mehr als nur drei Punkte.“ Seine Interviews sind stets aufrecht und schnörkellos, so wie er auch als letzter Feldspieler seiner Mannschaft agiert. Ähnlich äußerte sich Trainer Rúben Amorim, er räumte ein, dieser aufgrund des Niedergangs des Klubs im vergangenen Jahrzehnt denkwürdige Triumph in Liverpool sei der größte Erfolg seiner einjährigen Amtszeit. Selbstironisch fügte er hinzu, er habe ja noch nicht so viele Siege mit Manchester eingefahren. Genau genommen gewann United unter ihm jetzt erstmals zwei Ligaspiele nacheinander.
Seit Amorims Verpflichtung hat sich Manchester United langsam, aber stetig aufgerappelt – und sich nun im prestigeträchtigsten Duell des englischen Fußballs zurückgemeldet: „The empire strikes back“, waren sich die Kommentatoren auf der Insel einig. Die Dauerfehde mit Liverpool handelt zwar nicht von einem „Krieg der Sterne“, doch es geht immerhin um die nationale Vorherrschaft. Nach Liverpools Titelgewinn in der vergangenen Saison stehen beide Klubs aktuell bei jeweils 20 Meisterschaften. Geradezu metaphorisch dafür: Uniteds Ehrentrainer Alex Ferguson teilte in der Halbzeit eine Packung Schokolinsen … mit LFC-Legende Kenny Dalglish. Die beiden Schotten standen sich Anfang der Neunzigerjahre als Trainer noch in herzhafter Abneigung gegenüber.
Und heute? Da düpierte United das kriselnde Liverpool von Trainer Arne Slot mit einer taktisch einwandfreien Leistung. Die im Sommer höchst prominent und kostspielig verstärkten Reds kassierten daher die vierte Pflichtspielpleite in Serie, das passierte Liverpool letztmals vor elf Jahren. Amorim setzte auf eine altenglische Kick-&-Rush-Spielweise, die das Pressing des LFC konsequent mit langen Pässen umging. Wirkung zeigte das bereits in der zweiten Minute, als Bryan Mbeumo das 1:0 erzielte – nachdem sich die beiden Liverpooler Virgil van Dijk und Alexis Mac Allister am Mittelkreis gegenseitig abgeräumt hatten. Trotz fortwährenden Dauerdrucks der Hausherren, für die Florian Wirtz und Hugo Ekitiké in der zweiten Halbzeit eingewechselt wurden, hielt United charakterstark dagegen. Auch dann noch, als dem zuvor dreimal am Pfosten gescheiterten Cody Gakpo in der 78. Minute der 1:1-Ausgleich gelang.
Trotzig steckten die Gäste den Rückschlag weg und stellten ihre neu gewonnene Widerstandskraft unter Beweis. Diese hatte der zunächst wegen ausbleibender Ergebnisse oft kritisierte Amorim seiner Mannschaft vom ersten Tag an vermittelt. Nach seiner Übernahme hatte der bei Spielern, Management und Fans hochgeschätzte Portugiese mit den Spätfolgen der Amtszeit seines Vorgängers Erik ten Hag zu kämpfen, der ihm de facto eine ruinierte Mannschaft hinterlassen hatte. Kein Umstand verdeutlicht das besser als die missratene Transferbilanz: Ten Hag hatte in dreieinhalb Jahren fast ausschließlich Spieler mit Verbindung zu seiner niederländischen Heimat oder seiner niederländischen Beratungsagentur installiert. Von diesen für rund eine Dreiviertelmilliarde Euro verpflichteten 15 Spielern standen gegen Liverpool am Sonntag lediglich drei in der Startelf: Matthijs de Ligt, Mason Mount und Casemiro.
Im Gegensatz dazu scheinen die diesjährigen Sommertransfers von United zu funktionieren. Die Offensivspieler Cunha und Mbeumo überzeugten mit technischer Finesse, aber auch mit Einsatzbereitschaft und Durchsetzungskraft. Auch Mittelstürmer Benjamin Sesko (von RB Leipzig) findet sich zunehmend besser zurecht in der Premier League. Der womöglich größte Coup jedoch gelang der neuen Transferabteilung, die Minderheitseigentümer Jim Ratcliffe nach seinem Einstieg zu Weihnachten 2024 unverzüglich installiert hatte, auf der Torhüterposition. Statt sich auf ein finanzielles Wettbieten um den bisherigen PSG-Keeper Gianluigi Donnarumma einzulassen, der schließlich beim Stadtnachbarn City landete, engagierte United überraschend Senne Lammens für 21 Millionen Euro von Royal Antwerpen. Der junge Belgier war nur Insidern ein Begriff, hatte jedoch laut den Statistiken der Vorsaison einen der höchsten Torverhinderungswerte aller Keeper in Europa.
United baut Lammens behutsam auf, in Liverpool bestritt er erst sein zweites Pflichtspiel – und überzeugte mit sehenswerten Paraden, Strafraumbeherrschung und sicherem Aufbauspiel. So verleiht er der Mannschaft mehr Stabilität, und er kann den Ball sowohl vom Boden als auch aus der Hand mit beiden Füßen weiter schlagen als fast alle Konkurrenten. Er sei „schwer beeindruckt“ von Lammens, sagte Maguire, so etwas hatte er über keinen seiner zuletzt häufig wechselnden Hinterleute je gesagt.
Sofern United nach all den Schwankungen der Vergangenheit diesmal keinen Rückfall erleidet, könnte das Team in dieser Saison zu einer der Überraschungen der Premier League werden, der Rückstand auf Tabellenführer Arsenal beträgt bloß sechs Punkte. Ein feines Gespür für die Bedeutung des Erfolgs in Liverpool bewies nach Abpfiff der weit gereiste Casemiro. Er tätschelte im Spielerpulk mehrmals den Kopf von Maguire – und schob ihn vor die Fans.

