EuGH-Entscheid zur Superliga

Sieg für die Fans

24. Dez 2023, 06:15 Uhr

Druck von der Straße: Viele englische Fußballfans wehrten sich im April 2021 erfolgreich gegen die Einführung einer Super League. Die Proteste dürften bei den Klubs noch heute nachwirken. (Foto: Adam Davy / Imago)
Druck von der Straße: Viele englische Fußballfans wehrten sich im April 2021 erfolgreich gegen die Einführung einer Super League. Die Proteste dürften bei den Klubs noch heute nachwirken. (Foto: Adam Davy / Imago)

Der Europäische Gerichtshof hat entschieden, dass die Fußballverbände Fifa und Uefa neue Wettbewerbe grundsätzlich akzeptieren müssten. Doch ein neuerlicher Versuch der Abspaltung der größten Vereine ist kaum zu erwarten – zur Freude der Fans.

Sven Haist, London

John Henry, der Besitzer des Liverpool Football Club, saß in einer Zimmerecke und wirkte geradezu schockiert. Der Bildhintergrund sah ähnlich blass aus wie sein Gesichtsausdruck. Zweieinhalb Minuten sprach der stets öffentlichkeitsscheue US-Investor im April 2021 zu den Liverpool-Fans und entschuldigte sich auf ganzer Linie – für die damalige Beteiligung seines Klubs an der niedergeschlagenen Einführung einer Superliga, eines Konkurrenzprodukts zu den bestehenden Europapokal-Wettbewerben des Europa-Verbands Uefa. Henry übernahm die alleinige Verantwortung für den Aufruhr an der Anfield Road und bekannte, die Fans im Stich gelassen zu haben. Dieses Erlebnis, sagte Henry, werde er nie vergessen. Und so dürften sich damals auch viele andere Funktionäre gefühlt haben.

Als einer von zwölf europäischen Spitzenvereinen aus England, Italien und Spanien hatte sich der LFC an einem Putschversuch beteiligt, der die bestehenden Instanzen und Wettbewerbsstrukturen im Fußball aus den Angeln gehoben hätte. Nach der Verkündung der beispiellosen Idee begehrten die Fans fast geschlossen dagegen auf, vor allem in England, dem Mutterland des Fußballs. Die landesweiten Stadionproteste waren so überraschend, real und gewaltig, dass das Vorhaben innerhalb von zwei Tagen zusammenbrach. Die beteiligten Klubs distanzierten sich fortan vom einst gemeinsam vorangetriebenen Projekt – bis auf Real Madrid und den FC Barcelona.

Die Klubs könnten sich nun auch international selbst organisieren

Spaniens Branchenführer ließen die Schlappe nicht auf sich sitzen und bemühten eine Klage gegen die Markthoheit der Uefa und des Weltverbands Fifa. Der Fall landete beim Europäischen Gerichtshof (EuGH). Der schätzte laut des dazu veröffentlichten Pressetextes die monopolartigen Positionen der Verbände als nicht vereinbar mit dem europäischen Wettbewerbsrecht ein – und fasste die Drohgebärden der Uefa gegen die seinerzeit abtrünnigen Superligisten als mutmaßlich rechtswidrig auf. In der 68 Seiten umfassenden Begründung des EuGH lesen sich die Formulierungen allerdings weit weniger diktatorial. Laut der Süddeutschen Zeitung sollen die Uefa-Anwälte die auffallende Diskrepanz beim EuGH bereits beanstandet und um Aufklärung gebeten haben.

Grundsätzlich folgten die Richter in diesem Sachverhalt dem Leistungsprinzip. Dieses basiert, in der Wirtschaft wie im Sport, zuvorderst auf Wettbewerb. Ein solcher könnte nun theoretisch auch bei Ausschreibungen von Fußballformaten entstehen: Mehrere Konkurrenten kämpfen mit verschiedenen Turniermodellen um die Gunst der Klubs, die sich frei entscheiden könnten – oder sich in Zukunft nicht nur national, sondern auch international selbst organisieren, sofern die verschiedenen Interessen in Einklang zu bringen wären. Das damit wohl einhergehende Preistreiben hätte den vermeintlichen Nutzen, die Milliardeneinnahmen aus TV-Rechten und Sponsoring eventuell nochmals zu steigern, gerade im Fall einer Abspaltung der Grossklubs von ihren nationalen Ligen.

Die Fans sehen den Fußball als Kulturgut – nicht als Wertpapier

Aus diesem Grund wollte der Real-Präsident Florentino Pérez, der Hauptinitiator der Superligisten, das Votum des Gerichts als einen Triumph für „das Recht, die Vernunft und die Freiheit“ verstanden wissen. Die Klubs hätten ab jetzt ihr Schicksal in der eigenen Hand, sagte Pérez. Tatsächlich wirkt das Urteil des EuGH wie eine Mahnung an die allmächtig auftretenden Uefa und Fifa, die den Rahmenplan des Fußballs beinahe nach Belieben koordinieren und kontrollieren. Sie hinterließen mit ihrer Geschäftigkeit zuletzt mehrfach den Eindruck, immer mehr Geld für sich selbst herausschlagen zu wollen. Die Schwächung der Verbände würde den Klubs jetzt prinzipiell die Gelegenheit bieten, sie herauszufordern oder gar zu stürzen. Doch daran scheint bislang kein sonderliches Interesse zu bestehen. So haben sich in den vergangenen Tagen fast durchgehend alle wichtigen Klubs hinter die Uefa-Wettbewerbe gestellt und möglichen Konkurrenz-Formaten auf absehbare Zeit eine Absage erteilt.

Der Grund: Der Einfluss der Spitzenvereine auf die Uefa ist ohnehin schon ausgeprägt. Dazu kommt, dass der Aufbau eines ähnlich hochwertigen Konkurrenzprodukts wegen des Startvorteils der Uefa nicht realistisch erscheint, eine Zersplitterung der Klubs auf mehrere Ausrichter die Qualität der Wettbewerbe torpedieren und eine Fokussierung auf eine globale Liga die nationalen Spielklassen entwerten würde. Letzterem stellen sich bekanntlich die Fans in den Weg – und auf eine neuerliche Kraftprobe mit ihnen möchten sich die Klubs nach dem Superliga-Desaster keinesfalls einlassen. Zu energisch haben die Anhänger deutlich gemacht, dass ihre Leidenschaft für den Fussball das Fundament des Milliardengeschäfts ist. Sie sehen das Ballspiel als Kulturgut und nicht als Wertpapier, weshalb sie die gesellschaftliche Bedeutung der Klubs über deren sportliche und finanzielle Ambitionen stellen.

Deshalb lässt sich der aktuelle Erhalt des Status quo kaum anders interpretieren, als darin einen Sieg der Basis zu erkennen. Je massiver die gegenwärtigen Wettbewerbsstrukturen unter Druck geraten, desto stärker wirken die Beharrungskräfte.

Real begreift sich mehr als internationale Institution als der Primera División zugehörig

Am deutlichsten sichtbar wird dieser Zusammenhang in Deutschland und England: In Deutschland begrenzt die 50+1-Regel den Einfluss der Investoren in den Klubs, weil die Stimmenmehrheit immer beim Stammverein bleibt, deren Vertreter von den Mitgliedern gewählt werden. In England hat die Regierung der Basis den Rücken gestärkt, indem sie ankündigte, einen Wechsel der heimischen Klubs in potenziell andere Fußballstrukturen gesetzlich verhindern zu wollen. Den Eingriff der Politik in den Fußballbetrieb segnete kürzlich sogar König Charles persönlich ab.

Doch warum drängen Madrid und Barcelona trotz der fehlenden öffentlichen Unterstützung hartnäckig auf eine Neuordnung des Fussballgeschäfts? Im eigenen Rollenverständnis sehen sich beide Klubs wohl mehr als unabhängige Institutionen denn als der Primera División zugehörende Mitglieder. Real definiert sich seit je als Rekordsieger des Europapokals. Und Barça steht in gewisser Weise für Katalonien, das als Autonomiegebiet die Unabhängigkeit von Spanien forciert. Beide würden von einer Europaliga im Vergleich zu den europäischen Konkurrenten sportlich und finanziell wohl am meisten profitieren. Daher halten sich Wertschätzung und Empathie für die heimische Liga wohl mehr in Grenzen als im Ausland.

Real und Barça dürften also in Zukunft weiter versuchen, die bedeutendsten internationalen Vereine für ihre eigenen Ambitionen zu gewinnen. Aber die Funktionäre der beiden spanischen Vereine haben einst auch nicht erlebt, wie es ist, wenn vor den eigenen Stadiontoren eine Revolte tobt.

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