Elfmeterserie von Harry Kane

Der Scharfschütze aus elf Metern

14. Jan. 2025, 23:54 Uhr

Anders als früher achtet Harry Kane bei der Ausführung seiner Elfmeter mittlerweile mehr auf die Reaktion des Torhüters. Hier erzielt er vom Punkt den Siegtreffer für den FC Bayern gegen Borussia Mönchengladbach. (Foto: Team 2 / Imago Images)
Anders als früher achtet Harry Kane bei der Ausführung seiner Elfmeter mittlerweile mehr auf die Reaktion des Torhüters. Hier erzielt er vom Punkt den Siegtreffer für den FC Bayern gegen Borussia Mönchengladbach. (Foto: Team 2 / Imago Images)

Harry Kane hat unglaublich 26 Elfmeter in Serie verwandelt. Letztmals scheiterte er vom Punkt bei der WM 2022. Seitdem hat der Torjäger des FC Bayern seinen Anlauf verändert und sich noch mehr Optionen geschaffen. Gegen die TSG Hoffenheim kommt es zum Duell mit dem Elfmetertöter Oliver Baumann.

Von Sven Haist, London

Wahrscheinlich platzt eher der Ball, als dass Harry Kane einen Elfmeter verschießt. Auch der Siegtreffer vom Punkt gegen Borussia Mönchengladbach am vergangenen Samstag (1:0) wirkte für den Torjäger des FC Bayern wie Routine. Er täuschte den Schuss an, wartete die Reaktion des Gladbacher Torwarts Moritz Nicolas nach links ab – und schob dann den Ball souverän in die andere Torecke. Resigniert blickte Nicolas dem jubelnden Kane nach, obwohl er sich natürlich nichts vorzuwerfen hatte. Er sah aus, als würde er es gerade für realistischer halten, im Roulette zu gewinnen, als einen Elfer des Engländers zu parieren. Ähnlich dürfte es gerade seinen Torwartkollegen ergehen.

26 Elfmeter hat Harry Kane zuletzt in Folge verwandelt, elf davon in der Bundesliga für die Bayern. Kanes Bilanz hat in Europas Spitzenfußball momentan kein anderer Spieler vorzuweisen, sie wäre womöglich ein Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde wert. Die Bestmarke hierzulande halten Torhüter Hans Jörg Butt und Angreifer Robert Lewandowski, die beide jeweils 17 Mal hintereinander in der Liga trafen.

Manuel Neuer lobt Kanes Elfer als „Waffe“

Kanes Elferserie sei „schon krass“, sagt Teamkollege Joshua Kimmich. Aus seiner Sicht werde die Statistik sogar „unterschätzt, weil man denkt: Aus elf Metern den Ball ins Tor kriegen, das sollte man schaffen als Fußballprofi. Aber das ist nicht ohne.“ Auch Manuel Neuer lobt die Penaltys als „Waffe“. Er selbst hatte gegen Kane einst in der Champions League bei einem Strafstoß das Nachsehen, als dieser noch für Tottenham Hotspur spielte.

Seine Treffsicherheit basiert grundsätzlich auf dem immergleichen Vorbereitungsablauf und seiner außergewöhnlichen Schusstechnik. Die Präparation dient der Konzentration auf den Strafstoß, die ihm hilft, störende Begleitumstände wie den Spielstand, die Bedeutung des Matches und die Manöver der gegnerischen Spieler sowie Torhüter auszublenden. Dabei automatisiert Kane den Ablauf nach dem Zurechtlegen des Balls: Er macht sieben Schritte zurück, stellt sich in einer Art Stemmschritt mit dem linken Fuß nach vorn auf, atmet zwei Mal durch, verlagert den Körperschwerpunkt nach unten, läuft in Trippelschritten an und wird dann zum Ball hin schneller. Vor der WM 2022 sagte er, diese Art von Anlauf und diese Art von Winkel sei seine Routine bei Elfern.

Letzmals scheiterte Harry Kane im Dezember 2022 vom Punkt

Angesichts seiner Konstanz wäre es für die TSG Hoffenheim als kommender Bayern-Gegner in der Bundesliga am Mittwoch durchaus empfehlenswert, die Kontrahenten im Strafraum gegebenenfalls gewähren zu lassen, als sie zu foulen. Immerhin: Die Hoffenheimer verfügen mit Oliver Baumann über einen Elfmetertöter. Er hat in seiner Profilaufbahn 17 von 79 Versuchen abgewehrt. Eine Parade gegen einen Schützen wie Kane ist aber nicht dabei.

Letztmals scheiterte der Nationalkapitän bei einem Strafstoß im WM-Viertelfinale 2022 gegen Frankreich, als er sein Team mit einer erfolgreichen Ausführung in die letztlich verpasste Verlängerung hätte bringen können. Der Fehlschuss ist zusammen mit dem verballerten Elfer gegen Dänemark in der Verlängerung des EM-Halbfinales 2021 das prominenteste Missgeschick der Nummer 9. Damals sagte Tottenham-Trainer José Mourinho über Kane, er entscheide sich jeweils ein paar Tage vor dem Spiel, wie er einen möglichen Strafstoß schießen wolle.

Lange Zeit verzichtete Harry Kane auf Täuschungen während seines Anlaufs

Zu diesem Zeitpunkt war Kane ein Elfmeterschütze, der den Bewegungen des Torhüters tendenziell keine Beachtung schenkte. Im Vergleich zu einigen Kollegen verzichtete Kane während seines Anlaufs auf Täuschungen, seine Schrittfolge war flüssig und zielstrebig. Er verließ sich auf die Härte und Präzision des Schusses. Bei der Platzierung der Strafstöße bevorzugte er in allesentscheidenden Matches die von ihm aus linke Seite. Diese besitzt für ihn den Vorteil, den Ball dorthin als Rechtsfuß enorm wuchtig mit dem Innenspann statt der Innenseite treten zu können. Einer seiner Elfer hatte die Geschwindigkeit von 116 km/h und war nach 0,36 Sekunden im Tor.

Im 2021er-EM-Duell mit Dänemarks Goalie Kasper Schmeichel, der seine Vorlieben aus der Premier League kannte, wich Kane von seinem üblichen Vorgehen ab: Er schoss nach rechts unten – und scheiterte. Erst im Nachschuss konnte er damals doch noch den Ball ins Tor bringen.

Ähnlich stellte sich die Situation für Harry Kane gegen Frankreichs Tormann Hugo Lloris bei der folgenden WM dar, mit ihm hatte er seinerzeit jahrelang bei Tottenham zusammengespielt. Den ersten von damals gleich zwei Strafstößen für England im Match verwandelte er in seine Lieblingsecke. Beim zweiten Versuch war anzunehmen, dass er es wieder tun würde. Weil Harry Kane wohl vermutete, dass auch Loris so denkt und frühzeitig dorthin springt, entschied er sich, dem Ball diesmal mehr Power und Höhe mitzugeben als sonst – und donnerte ihn prompt über die Latte. Es wirkte so, als hätten ihn die Torhüter zuweilen entschlüsselt gehabt. Innerhalb von dreieinhalb Monaten vergab er zu Jahresende 2022 drei von acht Strafstößen.

Erstmals verzögerte Kane seinen Anlauf bei einem Elfer gegen Arsenal im April 2024

Als Reaktion auf die beiden Fehlversuche arbeitete Kane daran, seine Optionen bei Elfmetern zu erweitern – indem er nun manchmal auch plötzlich den Anlauf verzögert. Erstmals probierte Kane wohlüberlegt die Variante im Champions-League-Viertelfinale gegen den FC Arsenal 2024. Schon während des Anlaufs orientierte sich Arsenals Elferentschärfungsspezialist David Raya damals in Kanes favorisiertes Eck. Doch diesmal brach er seinen Bewegungsablauf abrupt ab, blickte zu Raya auf – und machte sich dessen frühe Spekulation zunutze. So musste Harry Kane nur noch problemlos den Ball in die andere rechte Ecke schieben. „Ist der Kerl überhaupt Torhüter?“, spottete Fußball-England im Nachgang über Raya. So sehr war er von Kane düpiert worden.

Mit diesem Überraschungseffekt hat Kane inzwischen eine Reihe von Goalies überrumpelt. Gleich in der nächsten Champions-League-Runde der Vorsaison, dem Halbfinale gegen Real Madrid, versetzte er mit dem gleichen Trick den Schlussmann Andrij Lunin. Erneut verzögerte er die Schrittfolge vor dem Treffpunkt des Balls, wartete das Verhalten von Lunin nach rechts ab und setzte den Ball diesmal in die linke Ecke. Durch beide Optionen – mit und ohne Anlaufunterbrechung – macht es Kane den Torleuten nochmals schwerer, seine Elfmeter zu parieren. Sie müssen nun zwei Mal in Serie richtig antizipieren: bei der Analyse des Anlaufs und bei der Wahl der Ecke.

Harry Kane bestätigte kürzlich, sich durch seinen veränderten Anlauf mehr Optionen geschaffen zu haben

Das sozusagen doppelte Lotteriespiel garantiert Harry Kane eine noch höhere Trefferwahrscheinlichkeit. Denn orientieren sich die Torhüter jetzt vorzeitig in eine Ecke, besteht die Gefahr, dass Kane seinen Anlauf verlangsamt. Und bleiben sie bis zum Schluss in der Tormitte stehen, kann der Angreifer auf seine alte Gabe vertrauen, den Ball platziert in eine Ecke zu schießen. Die Optionen im Anlauf bestätigte Kane kürzlich: Er sagte, dies sei etwas, was er geübt habe, weil Torhüter sich bei ihm gern früh in eine Ecke bewegen. Dies verschaffe ihm mehr Möglichkeiten.

Laut dem Statistik-Portal Transfermarkt hat Harry Kane nun insgesamt 85 Elfer im Profifußball verwandelt – bei nur elf vergebenen Strafstößen. Seine Quote liegt damit bei herausragenden 88,5 Prozent. Das Sportmagazin The Athletic adelte Kane kürzlich mit einem Vergleich: Er sei so nah an einer „sicheren Bank“, wie man es nur sein könne. Allerdings gab der Schütze zu, dass er auch viele Elfer verschieße – im Training.

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