Abschied von Toni Kroos
Stilvoll bis zum Schluss
02. Jun 2024, 01:02 Uhr
Mit seinem insgesamt sechsten Champions-League-Titel beendet Toni Kroos seine Karriere im Klubfußball. Bei seiner Auswechslung verehren ihn die Mitspieler und Fans – und er selbst wirkt angefasst wie eigentlich nie.
Real Madrid feierte nach dem fünfzehnten Triumph in der Champions League mehr Toni Kroos als den Titel an sich. Angesichts der riesigen Zuneigung, die dem Mittelfeldakteur bei der Siegerehrung zuteilwurde, wirkte es bisweilen so, als wäre Kroos die Trophäe gewesen und nicht der Henkelpokal. Jeder wollte ihn nach seinem 465. Match für Real und letzten Pflichtspiel im Klubfußball, einem 2:0 gegen Borussia Dortmund am Samstag, so nah wie möglich sein. Alle Spieler und Betreuer umarmten ihn derart lange, dass der Eindruck entstand, sie wollten ihn nicht gehen lassen.
Die Mannschaft warf ihn aus Anerkennung mehrmals in die Luft, fast so hoch wie der Stahlbogen über dem Wembley-Stadion. Als Kroos die Fußballwelt wie ein König von oben sah, zeigte er mit den Fingern nach unten auf sein Team. Er hat sich bis zum Schluss stets als Mannschaftsspieler verstanden. Auch deshalb wird er bei Real nicht bloß geschätzt, sondern auch geliebt und verehrt. Schon bei seiner Auswechslung in der 86. Spielminute rannten die Kollegen auf den Deutschen zu und bildeten ein ähnliches Spalier, wie sie es schon bei der offiziellen Verabschiedung im letzten Saisonheimspiel getan hatten. Jude Bellingham, der auf dem Weg ist, eventuell ein neuer Kroos zu werden, zeigte ehrfürchtig auf den Weltmeister von 2014 und animierte die sich ohnehin schon verneigenden Real-Fans zu einem Ehrenerweis.
Kroos ist der Lehrmeister der Jungen
Sichtlich gerührt, wie man Kroos sonst nie sieht, nahm er die Ovationen entgegen. Dankbar schwang er seine Arme in Richtung der eigenen Anhänger. Danach verließ er den Platz – und kehrte nur noch einmal zurück, um sich die Medaille für seinen sechsten Champions-League-Sieg abzuholen. Damit egalisierte Kroos zusammen mit seinen Teamkollegen Dani Carvajal, Nacho und Luka Modric die Allzeitbestmarke der Real-Legende Paco Gento.
Sich mit diesem großen Erfolg zu verabschieden, bedeute ihm unfassbar viel, gab Kroos zu. Es sei das absolut perfekte Ende, von dem er immer geträumt habe. Er wird nur noch bei der anstehenden Europameisterschaft für Deutschland auflaufen. Ancelotti fand, Kroos höre auf dem Höhepunkt seiner Karriere auf, höher gehe es einfach nicht. Und wer könnte das besser beurteilen als der Italiener, der nun fünf Mal die Champions League als Trainer und zwei Mal als Spieler gewonnen hat? Er lobte den Strategen für seine Einstellung, Seriosität und Professionalität. Aus seiner Sicht habe der 34-Jährige im Real-Trikot kein einziges Mal enttäuscht.
Kroos steht sinnbildlich für das Real-Spiel
Seitdem Kroos vor zehn Jahren für 25 Millionen Euro vom FC Bayern gewechselt war, hat er tatsächlich eine der glorreichsten Epochen bei Real geprägt. Sein Auftreten und seine Spielweise standen zunehmend sinnbildlich für die Fähigkeiten seiner Mannschaft, gegen Dortmund kam das vermutlich so deutlich zum Vorschein wie nie zuvor. Kroos behielt in einem komplizierten Spiel immerzu die Ruhe und strahlte damit jene Selbstsicherheit aus, über die kaum ein anderer Spieler auf diesem Niveau verfügt. Sie diente dem eigenen Team abermals als Orientierung.
Obwohl Kroos durch die Manndeckung von Dortmunds Marcel Sabitzer in der ersten Halbzeit kaum ins Match fand, bewahrte er die Geduld. Er akzeptierte in gewisser Weise die Überlegenheit des Gegners und hielt mit Beharrlichkeit und Einsatzbereitschaft dagegen. Diese Eigenschaften sind mehr zu spüren, als dass sie sich wahrnehmen lassen. In gewisser Weise wartete Kroos basierend auf seinem riesigen Fundus an Spielerfahrung einfach ab und vertraute darauf, dass die Dortmunder das hohe Anfangstempo irgendwann nicht mehr durchhalten würden.
Sein Gespür für das richtige Timing bewies Kroos auch beim Rücktritt
Kürzlich erklärte Thierry Henry, einer der weltbesten Stürmer seiner Zeit, dass in der Regel die Teams die Champions League gewinnen, die zusätzlich zur Spielkunst am besten kämpfen könnten. Und genau diese Leidensfähigkeit macht Kroos aus, und zugleich Real. Bellingham fasste sie zusammen, indem er in Bezug auf die vielen vergebenen gegnerischen Torchancen sagte, Real Madrid schlage immer zurück, wenn es nicht gänzlich gekillt werde. So glich die Niederlage für Dortmund einer Duplizität der Finalpleite 2013 gegen den FC Bayern, der Spielverlauf war damals geradezu identisch.
Die Wende für Real leitete ein strategischer Zug in der Halbzeit ein: Ancelotti verstärkte das Mittelfeld, indem er Bellingham aus dem Angriff um eine Position zurückzog. Dadurch musste sich Sabitzer mehr am Engländer ausrichten und Kroos genoss mehr Freiheiten. Er ließ den Ball fortan zirkulieren und ordnete das Spiel mit kurzen und langen Pässen. Einer seiner Eckbälle landete zum Führungstor auf dem Kopf von Dani Carvajal. Das Sportblatt «Marca» bezeichnet ihn wegen seiner Präzision als «blondes Metronom». Manchmal wirkte es tatsächlich so, als wäre Toni Kroos ein mechanischer Ballverteiler. Sein Wissen reichte er in den vergangenen Jahren an die jüngere Generation weiter, vor allem an Bellingham und Eduardo Camavinga. Letzterem rief «Marca» zu: «Sieh zu und lerne, Junge!»
Sein Gespür für das richtige Timing bewies Toni Kroos auch bei seinem vor zwei Wochen verkündeten Rücktritt. So konnte er sich gebührend von den eigenen Fans verabschieden. Und vermeiden, dass seine persönliche Zukunft rund um das Champions-League-Finale in den Mittelpunkt gerät, was unter Fußballern verpönt ist. Stattdessen verabschiedete er sich auf seine ganz eigene Art, stilvoll und zurückhaltend, fast königlich.