Jüngster Darts-Weltmeister
«Weine, mein Junge, weine»
04. Jan. 2025, 22:56 Uhr
Luke Littler dominiert die Darts-WM wie ein Roboter und lässt auch Michael van Gerwen im Finale keine Chance. Erst nach dem Match zeigt sich, unter welchem Druck der 17-Jährige stand. Über Englands besten Pfeilwerfer seit Robin Hood.
Alles begann und endete in Tränen. Nach seinem Auftakterfolg bei der Darts-WM vor drei Wochen, versagte Luke Littler auf dem Podium die Stimme. Er brach das Gespräch ab, lief zu seinen Eltern und umarmte sie. In diesem Moment wurde offensichtlich, unter welcher Anspannung der Engländer stand. Die Landsleute erwarteten von dem erst 17 Jahre alten Burschen aus Warrington bei Liverpool unerbittlich den Titel. Nun weinte Littler am Freitagabend erneut – aber aus Erleichterung. Littler hatte die Mission durch seinen Finalsieg gegen Michael van Gerwen erfüllt.
Einzig bei diesen Gefühlsregungen wirkte Littler in diesen WM-Tagen gewissermaßen wie ein Mensch aus Fleisch und Blut wirkte – und nicht wie ein Roboter, der Pfeile mit programmierter Selbstverständlichkeit in Felder schmettert, die klein sind wie Briefmarken. „Weine, mein Junge, weine“, habe van Gerwen ihm respektvoll zugeflüstert, erzählte Littler. Vermutlich konnte sein Konkurrent am ehesten nachempfinden, was in ihm gerade vorging. Denn der Niederländer war bis zur Ablösung durch Luke Littler am Freitagabend selbst der jüngste Weltmeister im Darts gewesen. Er hatte einst bei der WM 2014 als 24-Jähriger triumphiert.
Finalgegner van Gerwen bezeichnet Littler als „Wunderkind“
Alle 17 Jahre werde ein Star geboren, Littler sei einer, lobte van Gerwen. Damit spielte er auch scherzhaft auf den Altersunterschied zwischen sich und Littler an, beide trennen ebenjene 17 Jahre. Dass van Gerwen Littler trotzdem eine Stufe über sich selbst sieht, zeigt er, indem er ihn stets als „Wunderkind“ bezeichnet.
Die Engländer halten Littler für den präzisesten Pfeilwerfer seit Robin Hood. Ein Königreich liegt ihm zu Füßen. Großbritanniens Premierminister Keir Starmer verneigte sich in einer Erklärung vor Littlers „inspirierender Leistung“. Der Titel bringt ihm eine halbe Million Pfund Preisgeld ein, er ist schon jetzt Millionär. In der neuen Weltrangliste rückt er auf Platz zwei vor. Ein Traum sei wahr geworden, gesteht Luke Littler – wobei: Lange hatte dieser Traum angesichts seines jungen Alters nicht existiert. Er hinterließ den Eindruck, als habe er zwar sein Meisterwerk realisiert, aber bisher nicht begriffen. Zu später Stunde betonte er auf der Pressekonferenz, dass er nach dieser anstrengenden Saison erst mal nach Hause wolle, um wieder im eigenen Bett zu schlafen.
Er schüttle Druck ab wie eine Ente das Wasser vom Rücken, sagt Ex-Weltmeisterin Linda Duffy
Littlers 7:3 nach Sätzen gegen van Gerwen war eine Dokumentation seiner Ausnahmestellung in der Branche. Im Finale wählte er die Strategie wie früher der Rekordweltmeister Phil Taylor: Er legte mit einem Break los. Danach hielt er sein Niveau so hoch, dass van Gerwen nie ins Match kam. Der Niederländer analysierte, Littler habe jede Chance genutzt, ihm wehzutun. Damit meinte er, dass beide in den meisten Statistiken annähernd gleich abschnitten, nur in einer nicht: der Quote auf die Doppelfelder. Littler traf unglaubliche 55 Prozent der Würfe.
Er schüttle den Druck ab „wie eine Ente das Wasser von ihrem Rücken“, würdigte die frühere Darts-Weltmeisterin Linda Duffy in der BBC. Während der WM traf Littler 76 Mal die Höchstpunktzahl „180“, häufiger als alle anderen Spieler. Beispielhaft für Littlers Scoring-Power und Nervenstärke war der letzte Satz im komplizierten Auftaktduell gegen Ryan Meikle. Ihm gelang mit dem Rücken zur Wand ein Satz-Average von 140,91 – Rekord. Für den gesamten Durchgang, für den mindestens 27 Darts notwendig sind, benötigte er nur 32 Würfe. Bloß einmal geriet er bei dieser WM ins Straucheln, als er am Ende bei der Siegerehrung die 23 Kilogramm schwere Trophäe hochhalten sollte.
Am meisten trainiere er mit sogenannten Darts-Bots, erzählt Littler
Das alles eignete sich Littler von klein auf an, es heißt über ihn, er habe die ersten Darts schon mit anderthalb Jahren geworfen. Später profitierte er von den Nachwuchsserien des Verbands, die ihn selbst auf die medialen Anforderungen auf der Profitour vorbereiteten. Ausdruck seiner Ambition ist sein Darts-Spitzname, den er vor Jahren mit seinem Vater entworfen hat. Gemeinsam hätten sie in der Kneipe überlegt, und dann sei „The Nuke“ entstanden: Luke, die Atombombe. So unterschreibt er alle Autogrammkarten. Selbst diese gewagte Wahl ergibt insofern Sinn, als Littler im Darts eingeschlagen ist wie eine Bombe, die alles erschüttert.
Trotz der genauen Karriereplanung versteht es Luke Littler, das Pfeilwerfen wie ein Naturtalent aussehen zu lassen. So, als könnte jeder das Bull’s Eye treffen. Im Videogespräch mit BTL sagte er dazu kürzlich lapidar, dass er jeden Morgen aufs Neue für sich entscheide, ob er ans Darts-Board gehe; wenn ja, dauere sein Training ungefähr eine Stunde, einen Trainer hat er nicht. Auch ins Fitnessstudio gehe er nie, er sehe keinen Zweck darin, Gewichte zu stemmen. Am meisten übe er mit künstlichen Darts-Bots, deren Schwierigkeitsgrad er selbst einstellen kann, berichtet Littler. Dazu hört er House-Musik.
Vor einem Jahr war Littler noch ein Nobody
In England wird Littler nach seinem Durchbruch bei der vergangenen WM, als er auf Anhieb das letztlich gegen Luke Humphries verlorene Finale erreichte, fast überall erkannt. Seine Popularität sei verrückt, gesteht er, daran habe er sich erst gewöhnen müssen. Vor einem Jahr sei er einfach Luke Littler gewesen, ein Nobody, witzelt er. Sein Management hat seinen Namen schützen lassen, auch schon für Biermarken. Dabei ist es nicht volljährigen Jugendlichen in Großbritannien nur erlaubt, Alkohol mit einer Mahlzeit im Beisein Erwachsener zu konsumieren.
Eine Eloge auf Littler hielt soeben der bereits lange zurückgetretene Taylor, als dessen Nachfolger er gewissermaßen auserkoren ist. Littler sei in erster Linie daran interessiert, sich zu amüsieren, glaubt der Altmeister: Wenn er nicht gewinne, schmolle er nicht, sondern mache einfach weiter. Taylor vermutet, dass Littler eine ähnliche Erziehung genossen habe wie er. „Respektiere deine Eltern, ohne sie wärst du nicht hier“, betont Taylor. Und Littler verhalte sich aus seiner Sicht so. Nach dem Titelgewinn holte er seine Familie für Siegerfotos auf die Bühne.
Littler gehört jetzt zu den berühmten Sport-Teenagern, die vor ihrem 18. Geburtstag Aufsehen erregen
Als Weltmeister steht Littler nun im Pantheon der berühmten Teenager, die vor ihrem 18. Geburtstag für Aufsehen gesorgt haben. Der Independent kommentierte, dass Littler „zu Recht“ mit Sportlern wie Pelé und Boris Becker verglichen werde, die einst ebenfalls als 17-Jährige einen großen sportlichen Triumph gefeiert haben: Pelé gewann mit Brasilien die Fußball-WM 1958 und Becker das Tennisturnier Wimbledon 1985. Taylor mutmaßt, dass Littler „einer der besten Darts-Spieler aller Zeiten“ werden könne. Dessen WM-Rekord (16 Titel) sei weit weg, betont Littler, aber vielleicht sei dieser für ihn in 20 bis 30 Jahren tatsächlich erreichbar.
In einem Essay schrieb der Guardian über Luke Littler, dass dieser „den Geist“ des Darts repräsentiere: Es gehe um großes Können, aber auch darum, sich selbst nicht zu ernst zu nehmen. Nach seinem zweiten Match bei dieser WM lief Littler erneut auf seine Eltern zu. Er rieb sich scherzhaft mit den Fäusten die Augen – so, als würde er wieder weinen.