Darts-Wunderkind Luke Littler

Der neue Phil Taylor

02. Jan 2024, 15:30 Uhr

"There's only one Luke Littler": Um die Leistung des Teenagers zu würdigen, dichteten ihm die Fans den alten Phil-Taylor-Evergreen um. (Foto: Shaun Brooks / Imago)

Mit gerade mal 16 Jahren erreicht Luke Littler als jüngster Darts-Spieler überhaupt das WM-Finale. Er erinnert schon jetzt in vielerlei Hinsicht an den Altmeister Phil Taylor – und könnte eine ähnliche Ära prägen wie sein Idol.

Sven Haist, London

Als Rob Cross nach seiner Niederlage im Halbfinale der Darts-WM gegen Luke Littler am Dienstagabend das Spielpodium verließ, dürfte er froh gewesen sein, das Turnier bereits 2018 gewonnen zu haben. Denn so, wie ihn der erst 16 Jahre alte Littler zuvor abgefertigt hatte, steht für die Konkurrenz zu befürchten, dass es in den kommenden Jahren nicht mehr allzu viele Gelegenheiten geben wird, sich zum Weltmeister zu krönen.

Littlers Darbietung weckte Erinnerungen an die Vormachtstellung des Darts-Großmeisters Phil Taylor, der die Szene zwischenzeitlich derart dominiert hatte, dass er von 1995 bis 2002 sagenhafte acht Titel in Serie holte. Taylor ließ in gewisser Weise einer Generation von Spielern kaum eine Chance. Und eine vergleichbare Erfolgsära wird nun auch Littler zugetraut.

Die Darts-Fans haben den gerade weltweit aufsehenerregenden Teenager schon zu diesem frühen Zeitpunkt seiner Laufbahn als Nachfolger der Überfigur Taylor auserkoren. Dem Rekordweltmeister hatten die Leute einst aufgrund seiner Erfolge einen Sprechgesang gedichtet. Zur Melodie des Weihnachtsklassikers „Winter Wonderland“ von Michael Bublé grölten sie immerzu durchgehend, wenn Taylor spielte, dass es nur einen wie ihn gebe („There’s only one Phil Taylor“) und dass sie sich, im übertragenen Sinne, gerade in dessen Reich aufhielten („Walking in the Taylor Wonderland“). Dies war freilich der Ally Pally, der ziemlich passend als Spielstätte der Darts-WM auf einer Anhöhe im Norden Londons thront.

In der Spielweise, der Präsenz und den Aussagen ähnelt Littler Taylor – und sogar im Namen

Der Taylor-Song kam letztmals bei dessen WM-Rücktritt 2018 in voller Lautstärke zur Geltung, so laut, dass das Abschiedsinterview mit dem Altmeister auf dem Spielpodium nicht zu verstehen war. Danach ist das Liedchen zunehmend in den Hintergrund gerückt, weil kein zweiter Taylor in Sicht war – bis sich nun Luke Littler bei seiner ersten WM-Teilnahme als jüngster Spieler überhaupt bis ins Finale warf. Um diese Leistung zu würdigen, wurde ihm der alte Taylor-Evergreen gewidmet. Der Name Littler fügt sich auf beinahe wundersame Art genauso geschmeidig in die Melodie ein wie Taylor. Beide Namen haben die gleiche Länge und vor allem die gleiche Silbenzahl: die Vornamen eine, die Nachnamen zwei. So lässt sich kaum heraushören, ob die Leute nun Taylor oder Littler besingen.

Auch in anderer Hinsicht ähnelt Littler dem mehrmaligen Weltmeister Taylor, in der Spielweise, seiner Gestik und Mimik, der Präsenz und seinen Aussagen. Littler ist in der Lage, jedes Segment auf der Scheibe vergleichbar gut zu bespielen. Beim 6:2 nach Sätzen im Halbfinale gegen Cross erzielte er eine Durchschnittspunktzahl von 106 pro Aufnahme, die Hälfte der Pfeile auf die einen Abschnitt beendenden Doppelfelder flogen ins Ziel.

Kaum ein Spieler versteht es derzeit besser als Littler, mit den Zuschauern zu interagieren

Noch mehr als diese beachtliche Ausbeute hebt ihn sein Spielwitz von der Konkurrenz ab wie früher Taylor. Obwohl Littler zum Beispiel den Restwert „36“ direkt über die Doppel-18 hätte erledigen können, wählte er den ungewöhnlichen Weg über die Einfach-16 und die Doppel-10. An anderer Stelle zauberte er beim Stand von 182 Restpunkten eine 180er-Aufnahme aus der Hand, dabei gilt die beinahe nie bespielte Doppel-1 nicht als beliebtes Doppelfeld. Und als der Youngster die 132 über zwei Würfe ins mittige Bulls Eye vorbereitete und mit der Doppel-16 finalisierte, riss es die Leute leibhaftig von den Sitzen. Sie riefen enthemmt: „There’s only one Luke Littler!“

Littlers spielerische Leichtigkeit überträgt sich auf sein Auftreten. Trotz seiner geringen Profierfahrung versteht es derzeit keiner besser als er, mit den Zuschauern zu interagieren. Kürzlich ließ er sich Mobiltelefone zuwerfen, um vom Podium aus Selfies mit ihnen zu machen. Zuvor hatte er im Match gefragt, ob er auf das Bulls Eye werfen soll. Das Dartsvolk johlte auf – und Littler visierte die Mitte der Scheibe an. Er traf nicht, fing den Fehlversuch jedoch auf, indem er über sich selbst lächelte. So tat er es auch, als er gegen Cross anfangs seinen Rhythmus suchte.

Mit dieser Lässigkeit bedient der Youngster das Verlangen der Leute, nicht nur von guten Darts-Würfen unterhalten zu werden. Im Vergleich zu seinen viel älteren Kollegen wirkt Littler weit weniger verbissen, er bejubelt seine Satzgewinne nicht überschwänglich mit geballten Fäusten, sondern mit spontanen und natürlichen Kopf- und Handbewegungen. Durch das Einbinden der Zuschauer, das Taylor über Jahre prägte, hat sich der Engländer innerhalb dieser einen WM eine ungemeine Beliebtheit gesichert. Er ist Attraktion und Publikumsliebling zugleich im Ally Pally.

Taylor sagt, Littler könne einer „der besten Spieler aller Zeiten“ werden

Spür- und sichtbar wurde das am Dienstagabend beim Halbfinale, als die Stimmung nach Littlers Match im zweiten Semifinale deutlich abfiel, so als wäre in einer Diskothek plötzlich das Licht eingeschaltet worden. Dabei waren die Ränge weiterhin besetzt. Dadurch lief der deutliche Sieg des neuen Weltranglistenersten Luke Humphries gegen Scott Williams, ein glattes 6:0, fast schon unbemerkt ab. Trotz seiner beeindruckenden Vorstellung erklärte Humphries später erstaunlich demütig, dass er im Finale gegen Littler das Spiel seines Lebens bestreiten müsse, um zu gewinnen.

Diesen sehr aussagekräftigen Satz würde man angesichts des Alters grundsätzlich eher bei Littler verordnen, dem Sechzehnjährigen. Stattdessen merkte dieser wiederum beiläufig an, dass im bisherigen Turnier „nichts wirklich schwierig“ für ihn gewesen sei. Ein paar Sätze seien zwar eng gewesen, aber er glaube an seine Fähigkeiten. Zuvor wollte ein Reporter dieser Tage von Littler wissen, wann er denn zuletzt ein Spiel verloren hätte. „Ein Einzelspiel?“, fragte Littler zurück: „Keine Ahnung, vielleicht bei einem Event in Gibraltar im Oktober.“ Generell habe er in seiner Laufbahn nicht viele Partien verloren, betonte er. Daher kenne er das Gefühl einer Niederlage nicht wirklich. Seine Antworten verkörpern geradezu den Habitus von Taylor, der sich seinerzeit ganz ähnlich kokettierend ausdrückte.

Zu WM-Beginn prophezeite jener Taylor, dass Littler wahrscheinlich „einer der besten Darts-Spieler aller Zeiten“ werde. Vielleicht war er sich dessen so sicher, weil er sich in Littler selbst wiedererkennt.

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