Interview mit Russ Bray

«Das hört sich gut an»

03. Jan. 2024, 08:00 Uhr

"Gleiches Fleisch, unterschiedliche Sauce": Zum Erfolgsrezept des Schiedsrichters Russ Bray gehörte auch, dass er sich von seinen Kollegen bewusst abzuheben versuchte. (Foto: Shane Healey / Imago)

Der Caller Russ Bray hat Darts geprägt wie kaum ein anderer. Zum Abschied spricht er über seine Fähigkeit, Spiele zum Spektakel zu machen, seine Autorität auf der Bühne – und warum Phil Taylor der beste Pfeilwerfer ist.

Interview von Sven Haist, London

«One-hundred-and-eighty»: Mit seinem unüberhörbaren Ausruf der Höchstpunktzahl «180» – drei Würfe ins Feld der Dreifach-20 – hat der Schiedsrichter und Caller Russ Bray den Darts-Sport geprägt. Er hat das Pfeilewerfen aus den britischen Kellerkneipen auf die internationalen Showbühnen gebrüllt – und sich selbst in die Herzen der Fans. Sein Spitzname ist «The Voice», und seine unverwechselbar kräftige Stimme ist mittlerweile nicht nur überall auf Turnieren zu hören, sondern auch auf Apps, Anrufbeantwortern und in Werbetrailern. Die «180» hat sein Leben geprägt: Bray hat sie in allen möglichen Sounds und Sprachen ins Mikrofon geschrien. Sie ist sogar in seiner Telefonnummer und in seiner E-Mail-Adresse enthalten.

Vor Beginn der Darts-WM 2024 im Londoner Alexandra Palace hat Bray, 66, seinen Rücktritt als Schiedsrichter von den wichtigen Wettbewerben angekündigt. Der vierfache Familienvater ist seit Juli 1996 für die Professional Darts Corporation (PDC) im Einsatz, länger als alle Spieler.

Mister Bray, was sind die Gründe für Ihren Rückzug?
Russ Bray: Das Alter, zudem geht auch meine Frau in diesem Januar in Rente. Es ist an der Zeit, sich zu entspannen. Ich habe ein paar Dinge auf meiner Liste, die ich unbedingt noch tun möchte, solange ich fit bin, zum Beispiel meiner Leidenschaft Golf nachgehen. Trotzdem werde ich weiter für die PDC bei Einladungsturnieren und auf der Asien-Tour im Einsatz sein sowie im Hintergrund als Botschafter.

Haben Sie die vielen Reisen nie gestört?
Ich liebe das Reisen! Ich habe eine Festplatte mit etwa 3000 Filmen. Das ist genug, um mich auf den Flügen zu beschäftigen. Ich mag verschiedene Kulturen und fremdes Essen – vor allem das asiatische. Meine erste Reise in die Mongolei war speziell, genauso wie die erste nach Australien. Im August werde ich zum 41. Mal dorthin fliegen.

Sie sind bekannt geworden als Schiedsrichter und als Ansager. Als was sehen Sie sich mehr?
Grundsätzlich bin ich ein für das Spiel verantwortlicher Referee. Aber beide Aufgaben greifen ineinander, ich habe den Job selbst dorthin entwickelt. Insofern bin ich wohl ein Schiri, der die Zahlen ausruft (lacht).

Wie kamen Sie zu diesem ungewöhnlichen Beruf?
Rein zufällig! Ich habe Darts für Hertfordshire auf Bezirksebene gespielt – und eines Tages ist bei einem Heimspiel der Schiedsrichter ausgefallen. Ich habe dann ein paar Partien übernommen. Als ich von der Bühne ging, sagten einige Beteiligte: „Das hört sich gut an!“ Fortan war ich regelmäßig Schiedsrichter.

Und wie wurde die Professional Darts Corporation auf Sie aufmerksam?
Unser Schatzmeister in Hertfordshire war zugleich Schatzmeister der neu gegründeten PDC. Er empfahl mich weiter. Und nachdem ich beim World Matchplay in Blackpool mal vertretungsweise zwei Partien geleitet hatte, sagte PDC-Mitgründer Tommy Cox zu mir: „Wir haben ab jetzt keinen Ersatzmann mehr, sondern drei Schiris: Willkommen bei der PDC!“

Wie sind Sie an die Sache herangegangen?
Ich war ein Neuling. Die großen Kaliber hießen damals Bruce Spendley und Freddy Williams. Ich musste mich also von ihnen abheben. Meine Stimme unterschied sich, das war schon mal okay für den Anfang. Aber das reichte nicht. Also trug ich Jacke und Hose, wenn die beiden Anzüge anhatten – und umgekehrt. Ich ging mit einem Stehkragenhemd auf die Bühne. Die Leute waren empört: „Oh Gott, keine Krawatte!“ Doch in meiner Tätigkeit muss man ein bisschen extrovertiert sein.

Warum wollten Sie auffallen?
Ich gerate auf der Bühne ja automatisch ins Blickfeld – und wenn schon viele auf mich achten, möchte ich eben gut aussehen. Mittlerweile wissen die Leute, wie wir Schiedsrichter heißen. Wir sind jemand, wir sind Teil des Darts.

Wie meinen Sie das?
Ein Schiedsrichter kann ein Match kaputtmachen, indem er lediglich die Zahlen nennt: Bum Bum Bum – one hundred; Bum Bum Bum – twenty six (spricht die Zahlen ohne Betonung aus). Aber so möchte ich nicht sein. Ich versuche, selbst die nicht so guten Punktzahlen aufregend zu machen: Tweeentyyy Siiix, Fortyyy Fiiive. Mir ist es wichtig, dass das Spiel zu einem Spektakel wird. Die Leute bezahlen Geld, um Darts zu sehen. Dafür muss ich ihnen etwas bieten. Jeder macht das auf seine Art. Mein Leitspruch in Bezug auf den Schiedsrichterberuf ist: Gleiches Fleisch, unterschiedliche Sauce.

Worauf kommt es in technischer Hinsicht an?
Auf die Zählweise. Ein Spieler rechnet immer nur die geworfene Punktzahl vom Ausgangswert „501“ herunter. Aber als Referee muss ich die Punkte der Würfe zur Gesamtsumme addieren, und sie gleichzeitig wiederum vom Spielstand abziehen. Das sind zwei verschiedene Dinge, an die ich mich erst gewöhnen musste, weil ich kein klassischer Caller bin wie Kirk Bevins (genannt Kirkculator, wie Calculator/Taschenrechner; Anm. d. Red.).

„Ich behandle alle SPieler gleich“

Wie haben Sie sich das blitzschnelle Kopfrechnen angeeignet?
Viele Zahlen-Kombinationen weiß man ohnehin: Dreifach-20 plus 20 plus 20 ist Hundert. Schwierig wird es, wenn ein Spieler das Feld verfehlt, das er anvisiert hat. Einmal wollte Mervyn King den Restwert „142“ durch Dreifach-20, Dreifach-14, Doppel-20 auf „0“ herunterspielen, traf statt der Dreifach-14 jedoch die Dreifach-11 und fragte plötzlich: „Was habe ich geworfen und was ist der Restwert?“ In solchen Situationen muss ich dann die Punkte schnell addieren und subtrahieren können.

Stört Sie dabei nicht der ohrenbetäubende Lärm der Zuschauer?
Nein, mich beeinträchtigt vielmehr das Spieltempo. Je schneller die Pfeile nacheinander geworfen werden, desto weniger Fehler mache ich – weil ich vollends konzentriert bin. Bei einem langsameren Werfer besteht die Gefahr, dass ich gedanklich abschweife.

Wie sieht Ihre Vorbereitung auf die Spiele aus?
Ich habe keine (lacht laut)! Ich vertreibe mir die Zeit mit den Kollegen hinter der Bühne und warte, bis ich dran bin.

Macht es für Sie wirklich keinen Unterschied, welcher Profi gerade auf der Bühne steht?
Nein, ich behandle alle Spieler gleich – unabhängig, ob es Phil Taylor ist, mit dem ich mir jahrelang das Zimmer bei Turnieren in Kanada geteilt habe, oder Michael van Gerwen oder ein unbekannter Teilnehmer. Mir ist egal, wer gewinnt. Mein Fokus liegt darauf, sicherzustellen, dass alles fair und richtig abläuft. Es kann aber helfen, die Wurfvorlieben der Spieler zu kennen. So kann ich ein wenig erahnen, wohin die Darts gleich geworfen werden.

Ist das der Grund, warum Ihre Führungsrolle auf der Bühne nie infrage gestellt wird?
Darts-Spieler respektieren grundsätzlich den Schiedsrichter. Dazu bin ich um einiges älter als alle Profis, das hilft sicher. Ebenso wie freundlich und zuvorkommend zu sein. Das ist immer der beste Weg. Und ich mische mich nicht in Konflikte ein.

Klingt alles sehr banal. Warum klappt das im Fußball nicht?
Ein Fußball-Schiedsrichter hat 22 Akteure plus Trainer und Ersatzspieler zu beaufsichtigen. Und er muss wesentlich mehr umstrittene Entscheidungen treffen als ich: War es Foul? War es Abseits? War es Handspiel? Ich muss nur dafür sorgen, dass meine beiden Marker (Punkte-Aufschreiber; Anm. d. Red.) die Werte korrekt notieren. Und wenn es psychologische Spielchen zwischen den Beteiligten gibt, lässt sich das oft im Keim ersticken. Meine Tätigkeit gleicht mehr der eines Tennis-Stuhlschiedsrichters.

Je exponierter der Darts-Sport wird, desto mehr nimmt auch der Einfluss des Publikums auf die Matches zu. Wie stehen Sie dazu – und wann ist die Grenze des Fairplay überschritten?

Die Zuschauer wollen, dass ihre Leute gewinnen. Diesen Patriotismus gibt es überall auf der Welt. In gewisser Form akzeptieren die Spieler das auch. Sobald es jedoch zu unsinnig wird – also wenn gepfiffen wird, wenn Spieler dabei sind zu werfen -, greife ich ein und sorge für Ordnung.

„Heute kann selbst die Nummer 48 vom Darts leben“

Hat irgendein Spieler mal versucht, den Grund für eine Niederlage bei Ihnen zu suchen?
Vor einiger Zeit pfiffen einige Zuschauer jedes Mal, wenn Johnny Clayton dran war. Ich forderte sie mehrmals auf, das zu unterlassen. Hinterher beklagte sich allerdings van Gerwen bei mir, der das Spiel trotz klarer Führung noch verloren hatte, dass ich mich nicht hätte einmischen dürfen. Ich habe ihm dann klar gesagt: Mach mich nicht für deine Niederlage verantwortlich! Das ist unanständig! Dann war das Thema für uns aber sofort wieder vergessen.

Was hat sich im Darts im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte mehr verändert: das Spiel oder die Spieler?
(überlegt) Also, das Equipment hat sich gewandelt, die Pfeile, das Dartsboard. Die Zielfelder waren früher kleiner, weil dickere Trenndrähte mehr Platz auf der Scheibe beansprucht haben. Dann die PDC, sie hat sich als Verband professionalisiert. Es gibt mehr Turnierserien und sogar eine Nachwuchsspielklasse, dadurch ist eine höhere Anzahl an guten Spielern entstanden. Aber der offensichtlichste Aspekt ist natürlich: Die Spitzenkönner sind Millionäre, Phil Taylor sogar Multimillionär. Das wäre einst undenkbar gewesen. Keith Deller bekam für seinen 1993er-WM-Sieg 8000 Pfund. Heute kann selbst die Nummer 48 vom Darts leben.

Und das verändert die Szene enorm.

Sicher. Früher war Darts ein Arbeitersport, folglich kamen die meisten Spieler aus Handwerksberufen. Aber Luke Littler dürfte als 16-Jähriger im Jahr 2023 schon um die 70 000 Pfund verdient haben, ehe die WM überhaupt begonnen hat: Warum sollte er noch Maurer werden oder einen Bürojob annehmen? Das wird nicht passieren. Trotzdem würde ich jedem Nachwuchsspieler raten, eine Ausbildung abzuschließen – damit man etwas hat, auf das man notfalls zurückgreifen kann. Es schaffen nur wenige Auserwählte ganz an die Spitze.

Welche Fähigkeit ist dafür am wichtigsten?

Die Psyche! Die macht den Unterschied aus.

Und wer ist mental am stärksten?

Das war definitiv Phil Taylor.

Der 16-malige Weltmeister, der 2018 das letzte Mal bei der WM antrat.

Seine Trainingspläne sahen aus wie normale Arbeitsalltage: Frühstück, Training von neun bis zwölf Uhr, dann Mittagessen, wieder Training. Aber vor allem warf er nicht einfach auf die Scheibe, sondern übte bestimmte Kombinationen von „85“ aufwärts bis „151“ zum Beispiel: 85, 86, 87, 88, alles nacheinander. Er war mental so stark, dass er dieses anspruchsvolle Pensum durchhalten konnte. Und falls er mal ein Spiel verlor, glich er einem verwundeten Tiger: Er würde seinen Gegner beim nächsten Mal, im übertragenen Sinne, versuchen, in Stücke zu reißen …

… so wie er das mit Raymond van Barneveld beim 7:1 im WM-Finale 2009 gemacht hat – zwei Jahre, nachdem er ihm im legendären 2007er-Endspiel im Sudden-Death-Leg unterlegen war.

Das war das beste Finale, das ich gesehen habe. Sensationell! Dieses Drehbuch ließ sich nicht schreiben.

Haben Sie damals so laut gebrüllt wie nie?

Nein. Das wird wohl eher beim ersten im TV übertragenen Neun-Darter von Taylor in Blackpool 2000 gewesen sein. Aber ich schenke solchen Sachen kaum Beachtung. Ich werde ab und an auch gefragt, wie oft ich in meinem Leben „One-hundred-and-eighty“ gesagt habe. Ich habe keine Ahnung: Es könnte tausend oder eine Million Mal gewesen sein oder irgendetwas dazwischen.

Wie wird es sein, zum letzten Mal beim WM-Finale „One-hundred-and-eighty“ zu rufen?

Ich bin sicher, dass es emotional werden wird. Aber alle guten Dinge haben ein Ende.

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