Manchester United in der Europa League

Ein Spiel ist erst vorbei, wenn Man United getroffen hat

20. Apr. 2025, 13:17 Uhr

Wie 1999: Statt 102 Sekunden benötigte Manchester United diesmal nur 87 Sekunden, um ein verloren geglaubtes Spiel kurz vor Schluss zu wenden. (Foto: Conor Molloy / Imago Images)
Wie 1999: Statt 102 Sekunden benötigte Manchester United diesmal nur 87 Sekunden, um ein verloren geglaubtes Spiel kurz vor Schluss zu wenden. (Foto: Conor Molloy / Imago Images)

5:4 nach 2:4: Mit drei ganz späten Toren dreht Manchester United in der Verlängerung ein verloren geglaubtes Spiel in der Europa League und zieht ins Halbfinale ein. Mit dem Titel könnte der Klub eine Katastrophensaison retten. Die Dramatik und die Ekstase erinnern an den Champions-League-Triumph 1999.

Von Sven Haist, London

Operngänger wissen, dass eine Aufführung erst dann vorbei ist, wenn in der Abschlussszene eine der großen Sopranistinnen aufgetreten ist. „It ain’t over ’til the fat lady sings“, ist das uncharmante Sprichwort dazu. Aber die Volksweisheit soll sensibilisieren, sich nicht anzumaßen, den Ausgang eines Ereignisses vorwegzunehmen. Auf den englischen Fußball übertragen, gehört das letzte Wort gemäß der Geschichte zumeist dem Rekordmeister Manchester United, der dafür sogar einen eigenen Begriff definiert hat: „Fergie Time“, benannt nach dem früheren United-Trainer Alex Ferguson. Über dessen Aura raunte man sich in Manchester zu, ein Spiel sei immer so lange fortgesetzt worden, bis Fergusons Mannschaft vorne lag. Dass der Mythos trotz der Dauerkrise des Klubs immer noch wirkt, bewies der Verein mit seinen hunderttausend Leben am Donnerstagabend auf exzeptionelle Art.

Ein Aus hätte für United ein Katastrophenszenario heraufbeschworen

Innerhalb von sieben Zeigerumdrehungen drehte Manchester United in der Schlussphase der Verlängerung gegen Olympique Lyon mit drei Toren das verloren geglaubte Viertelfinalrückspiel in der Europa League und erreichte doch das Halbfinale. Ein Aus hätte ein sportliches Katastrophenszenario wegen des Tieffalls der Red Devils auf Tabellenplatz 14 in der Premier League heraufbeschworen: kein Geld, keine Liebe, keine Hoffnung, keine Perspektive.

Doch alle T­e­ufel schienen nach dem 2:2 im ersten Duell nun beim Spielstand von 2:4 in der 114. Minute Engel zu sein. So brachte zunächst United-Kapitän Bruno Fernan­d­es sein Team per Elfmeter auf 3:4 heran; dann traf Kobbie Mainoo zum 4:4 (120.); schließlich wuchtete Harry Maguire einen Kopfball zum 5:4 (120.+1) ins Tor. Es war wahrhaftig wie unter Ferguson: Kein Spiel ist auserzählt, bevor nicht Manchester United getroffen hat. Zwischen beiden letzteren Toren lagen gerade mal 87 Sekunden. 87 Sekunden, die ebenso in Manchesters Folklore eingehen dürften wie jene 102 Sekunden, die Fergusons Mannen im Champions-League-Endspiel 1999 gegen den FC Bayern benötigten, um in der Nachspielzeit ein 0:1 in ein 2:1 zu verwandeln.

So eine Geräuschkulisse habe er noch nie vernommen, sagt Trainer Amorim

Das Revival gegen Lyon weckte jedenfalls alle Lebensgeister im Stadion, die Stimmung war eine Mischung aus Rausch und Ekstase – als hätte die Dreiviertelmilliarde United-Fans auf der Welt in diesem Moment sportliche Erlösung gefunden. Der englische TV-Kommentator Peter Drury fühlte die Atmosphäre im Old Trafford so: „Oh, mein Gott (…) Fußball führt Menschen in Sphären, die sie sich nicht vorstellen könn­en.“ So was habe er noch nie in seiner Karriere vernommen, sagte United-Trainer Rúben Amorim dazu glücksschwankend; er wolle diesen Geräuschteppich ein Leben lang mit sich herumtragen. „Man alive“, Manchester United lebt, atmete die Boulevardzeitung Sun tief durch.

Zwischenzeitlich hatte es danach ausgesehen, als wäre Manchester United zumindest kurz deliriert. Nach einer schnellen Führung durch Manuel Ugarte (10.) und Diogo Dalot (45.+1) fingen die Füße der United-Spieler nach Lyons Ausgleichstoren von Corentin Tolisso (71.) und Nicolás Tagliafico (77.) zu zittern an. Nicht mal Tolissos gelb-rote Karte (89.) verschaffte Milderung, der Platzverweis verstärkte sogar Uniteds Druckempfinden, irgendwie gewinnen zu müssen – bis es dann nach weiteren Gegentoren von Rayan Cherki (104.) und Alexandre Lacazette (109./Elfmeter) plötzlich nichts mehr zu verlieren gab.

Das „Theatre of Dreams“ ließ mal wieder Träume wahr werden

Auf der Tribüne wurde der einstige United-Verteidiger Rio Ferdinand nervös. Er rief aufs Spielfeld, dass es jetzt „mehr als ein Wunder“ benötigte. Doch dafür ist wohl kaum ein Stadion mehr geeignet als das sogenannte „Theatre of Dreams“, das Theater der Träume, das Träume tatsächlich immer wieder zur Realität werden lässt. Den Schlussakkord leitete Trainer Amorim mit einer taktischen Umstellung an. Er bot den Verteidiger Maguire zusammen mit dem Mittelfeldspieler Kobbie Mainoo als Doppelspitze auf. Maguires Kopfballstärke sollte sich mit den grazilen Bewegungen des zuletzt verletzten Mainoo ergänzen. Die Idee ging auf: Mainoos Tor war eine Meisterleistung am Ball, Maguires Dickschädel wurde zu Uniteds Synonym für den Opernsopran.

Durch diesen Moment könne der Klub „für ein paar Minuten vergessen“, was für eine miserable Saison man gerade spiele, befand Amorim. Er hoffe, dass alle daraus Kraft ziehen werden. Denn United muss immer noch die Europa League gewinnen, um sich einen Startplatz für die kommende Champions-League-Saison zu sichern. Einnahmen aus der Königsklasse würden dann dem hochverschuldeten Klub die Chance auf einen Kaderumbau geben. Sollte dies nicht gelingen, wäre man in der nächsten Saison international gar nicht vertreten.

Im Halbfinale geht es gegen Atletic Bilbao

Angesichts der Dramaturgie im Old Trafford geriet fast in Vergessenheit, dass sich gleichzeitig FK Bodo/Glimt sensationell im Elfmeterschießen gegen Lazio Rom ebenfalls fürs Halbfinale qualifiziert hat – als erster norwegischer Verein überhaupt im Europapokal. Für Bodo/Glimt geht es nun gegen den Frankfurt-Bezwinger Tottenham Hotspur, United bekommt es im Parallelspiel mit Athletic Bilbao zu tun, in dessen Heimspielstadion das Finale am 21. Mai stattfinden wird. Es ist erst vorbei, wenn es vorbei ist.

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