Coventry City im FA-Cup

Der Sieg, den es nie gab

22. Apr 2024, 15:51 Uhr

Das Tor, das es nie gab: Nach 90 Sekunden wird der vermeintliche Siegtreffer von Coventrys Victor Torp wegen Abseits aberkannt. (Foto: Ed Sykes / Imago)
Das Tor, das es nie gab: Nach 90 Sekunden wird der vermeintliche Siegtreffer von Coventrys Victor Torp wegen Abseits aberkannt. (Foto: Ed Sykes / Imago)

Coventry City gelingt im FA Cup gegen Manchester United eine denkwürdige Aufholjagd und steht für 90 Sekunden im Finale – bis das Siegtor wegen Abseits aberkannt wird. Der Pokal-Lauf des Zweitligisten ist eine Erinnerung daran, dass der englische Fußball nicht nur aus der Premier League besteht.

Von Sven Haist, London

Obwohl die Spieler von Manchester United gewonnen und das Finale im FA Cup erreicht hatten, sahen sie wie Verlierer aus. Und die Spieler von Coventry City glichen Gewinnern, obwohl sie eigentlich verloren hatten. Nach dem Elfmeterschießen wandten sich die meisten Stars des Rekordmeisters sofort ihren Gegenspielern zu, gratulierten ihnen und würdigten ihre Leistung. Anschließend verabschiedeten sie sich ebenso zügig wie die eigenen Fans aus dem Wembley-Stadion und überließen den selten landesweit beachteten Profis des Zweitligisten die Bühne.

Der Coventry-Tross um Trainer Mark Robins, der mit Manchester United als Spieler einst 1990 den FA geholt hatte, machte sich auf zu einer kaum enden wollenden Ehrenrunde – begleitet von den Klängen des zu dieser melancholischen Situation überaus passenden Klassikers „Country Roads“ von US-Sänger John Denver. In dem Folk-Song geht es um das Zuhause, zu dem man sich hingezogen fühlt, sei es ein Ort oder ein Geisteszustand. Die Erinnerung daran dürfte allen Sympathisanten des Vereins ein wenig Trost gespendet haben im „größten FA-Cup-Moment, den es nie gab“, wie ihn die Zeitung Guardian bezeichnete – genauer gesagt gab es ihn schon, diesen Moment, aber nur für 90 Sekunden: So lang war das letztlich aberkannte Siegtor des Dänen Victor Torp gültig.

Coventry City gelingt die Mutter und Großmutter aller Aufholjagden

In der Mutter und Großmutter aller englischen Pokalspiele führte Manchester United, der Favorit, standesgemäß 3:0. Die Treffer erzielten Scott McTominay (23. Minute), Harry Maguire (45.+1) und Bruno Fernandes. Doch in der Schlussphase glich Coventry City, der Außenseiter, unverhofft und unglaublich zum 3:3 aus. Die Torschützen des ewigen Comebacks heißen: Ellis Simms (71.), Callum O’Hare (79.) und Haji Wright (90.+5/Handelfmeter).

Während der Verlängerung war der Klassenunterschied zwischen dem Siebten der Premier League und dem Achten der Championship nicht mehr auszumachen. Bisweilen wirkte es, als würde nicht Coventry, sondern United um die Teilnahme an den Aufstiegs-Playoffs kämpfen. Der Zweitligist erspielte sich Chance um Chance, Wright schoss aus kurzer Distanz knapp am Tor vorbei, Simms traf die Unterkante der Latte. Und dann grätschte Torp nach einer Flanke in der Nachspielzeit den Ball über die Linie und den Arbeiterklub aus den West Midlands vermeintlich ins erste Cup-Finale seit dem einzigen Triumph 1987.

“We’ll live and die in these towns”: Die Vereinshymne von Coventry City.

Die Fans von Coventry City jubelten, schrien und weinten vor Glück. Aber Glück ist flüchtig, es hält selten lange an, im Leben wie im Fußball. In diesem Fall nur anderthalb Minuten. Dann nahm Schiedsrichter Robert Jones auf Intervention seines Videoassistenten das Tor wegen Abseits zurück. Die Entscheidung war derart knapp, dass sie wie Zufall erschien, als wäre eine Münze geworfen worden. Die Kameras erfassen 50 Bilderin der Sekunde, eines jede 0,02 Sekunden. Auf dem Bild, das entscheidend herangezogen worden ist, steht Vorlagengeber Wright im Abseits.

United lag am Boden – und stand wie ein Totgeglaubter wieder auf

Die United-Spieler lagen bereits geschlagen auf dem Spielfeld, als sie plötzlich wie Totgeglaubte wieder auferstanden – und sich im Elfmeterschießen nach frühem Rückstand letztlich behaupteten (4:2). In der Neuauflage des Vorjahresfinales trifft Manchester United nun Ende Mai auf den Stadtnachbarn und Titelverteidiger City. Doch trotz der Niederlage sei er immens stolz auf seine Mannschaft, beteuerte Coventry-Coach Robins, sie hätte die Stadt würdevoll vertreten. Er sei sicher, dass über das Match „noch lange“ gesprochen werde – so, wie über den Klub selbst, der eine Runde zuvor Wolverhampton mit zwei Toren in der Nachspielzeit ausgeschaltet und in der Vorsaison den Premier-League-Aufstieg im Elferschießen des Playoff-Finales verpasst hatte.

Glück ist flüchtig: Für 90 Sekunden steht Coventry City im FA-Cup-Endspiel. Dann wird der Siegtreffer gegen Manchester United aberkannt. (Foto: Bradley Collyer)
Glück ist flüchtig: Kaum ein Klub hat das in dieser Saison mehr erlebt als Coventry City. (Foto: Bradley Collyer / Imago)

Der Pokallauf des Zweitligisten Coventry City ist eine wichtige Mahnung an die Entscheidungsträger der finanzgetriebenen Premier League, dass der englische Fußball nicht nur aus den 20 Erstligisten besteht. Soeben schaffte die FA auf Druck der Premier League die traditionsreichen Wiederholungsspiele bei Remis im Pokal ab, um die Spitzenspieler zu entlasten. Die zusätzlichen Duelle dienten vor allem unterklassigen Klubs als bisweilen existenzielle Zusatzeinnahmen. Sie sollen nun mit höheren Grundabgaben der ersten Liga entschädigt werden. Die Umstrukturierung des Spielplans demonstriert die Macht der Premier League und die zuletzt immer größer gewordene Kluft zwischen ihr und dem Rest der Ligapyramide. Doch solange die Duelle zwischen David und Goliath zumindest weiterexistieren, sind die Großklubs nicht davor gefeilt, manchmal wie kleine Vereine auszusehen.

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