EM-Finalist England

Die Comeback-Queens

28. Juli 2025, 21:09 Uhr

Die Engländerinnen haben bei Turnieren alle sechs K.-o.-Rundenspiele gewonnen, die nicht nach 90 Minuten entschieden waren. (Foto: Abaapress / Imago Images)
Die Engländerinnen haben bei Turnieren alle sechs K.-o.-Rundenspiele gewonnen, die nicht nach 90 Minuten entschieden waren. (Foto: Abaapress / Imago Images)

Revanche oder Wiederholung? England trifft im EM-Final der Frauen auf Spanien. Die Lionesses beeindrucken mit Kadertiefe, Physis und Mentalität – und haben eine besondere Statistik auf ihrer Seite. Doch die spielerische Qualität spricht für Spanien.

Von Sven Haist, London

England gegen Spanien – so lautet der EM-Final der Frauen am Sonntag (21 Uhr). Diese Paarung hätte man in England lange Zeit mit Wohlwollen aufgenommen, galt Spanien nicht als klassischer Angstgegner. Diese Rolle war traditionsgemäss Deutschland vorbehalten, das Englands Nationalteams über Jahrzehnte hinweg bittere Niederlagen zugefügt hatte. Von dieser Last hat sich das Mutterland des Fussballs inzwischen befreit: Die Männer machten an der EM 2021 den Anfang, als sie Deutschland in einer K.o.-Runde erstmals seit dem einzigen WM-Triumph 1966 bezwangen; die Frauen zogen ein Jahr später nach und sicherten sich im EM-Final 2022 gegen Germany in der Verlängerung den Titel. Beide Siege hatten hohen Symbolwert, jeweils errungen im Londoner Wembley-Stadion.

Seither aber hat sich aus englischer Perspektive eine neue, kaum weniger belastende Rivalität herausgebildet: mit Spanien. Gleich zwei Mal triumphierten die Nationalteams von der iberischen Halbinsel über England – die Frauen im WM-Final 2023, die Männer im EM-Endspiel 2024. Beide Niederlagen verhinderten die ersehnte Krönung Englands, das mit seinen Frauen- und Männerteams in fünf der letzten sechs grossen Turniere im Endspiel stand und seit 2021 jährlich ein Final erreichte. Eine derartige Erfolgsbilanz hat es im internationalen Fussball nie zuvor gegeben. Umso mehr steht das erneut bevorstehende Duell zwischen England und Spanien unter dem Motto «Revenge or Repeat» – Revanche oder Wiederholung.

England hat eine Qualitätstiefe und -breite wie keine andere Nation

Die Ursachen für Englands gegenwärtige Fussballdominanz gegenüber den meisten Nationen lassen sich exemplarisch an der Frauen-Nationalelf aufzeigen. Vor der EM wagte die niederländische Trainerin Sarina Wiegman einen nicht risikofreien Umbruch. Sie teilte Torhüterin Mary Earps und Spielmacherin Fran Kirby mit, dass ihre sportliche Bedeutung gesunken sei – woraufhin beide Spielerinnen zurücktraten. Auch Verteidigerin Millie Bright verzichtete auf eine Teilnahme; sie sei mental und körperlich nicht in der Verfassung, auf höchstem Niveau zu agieren, erklärte sie.

Trotz des Verlusts von insgesamt 218 (!) Länderspielen blieb die Wirkung auf die Mannschaft erstaunlich gering. Englands EM-Kader vereint derzeit eine Qualitätstiefe und -breite, wie sie keine andere Nation aufweisen kann. Alle 23 Spielerinnen stehen bei einem der vier Topvereine der heimischen Women’s Super League (Chelsea, Arsenal, Manchester United, Manchester City) unter Vertrag – oder bei internationalen Spitzenteams in den USA und Deutschland. Diese Dichte zeigt sich vor allem im Spielverlauf: Einwechslungen halten nicht nur das Niveau, sondern steigern es mitunter sogar. Fünf von 15 EM-Toren fielen durch eingewechselte Spielerinnen, darunter auch die beiden Halbfinaltreffer gegen Italien, als die Ersatzstürmerinnen Chloe Kelly und Michelle Agyemang den Rückstand drehten.

Englands Comebacks sind auch Ausdrück der physischen Stärke

Diese Comebacks sind auch Ausdruck einer überlegenen Fitness und Physis – zwei Markenzeichen des körperlich geprägten englischen Fussballs. Nach den jüngsten Erfolgen im Penaltyschiessen gegen Schweden und dann in der Verlängerung gegen Italien haben die «Lionesses» nun sämtliche sechs K.o.-Runden-Matches ihrer Geschichte gewonnen, die nicht in der regulären Spielzeit entschieden wurden. Und sie haben bei WM- und EM-Endrunden häufiger einen Rückstand umgebogen als alle anderen Länder. Zusammenhalt und Wettkampfgeist seien «enorm ausgeprägt», sagt Coach Wiegman.

Dabei fällt auf: Die spielerische Gesamtdarbietung überzeugte selten restlos. Schon die Auftaktniederlage gegen Frankreich gab erste Hinweise darauf. Auch in den folgenden Spielen blieben die  Engländerinnen in puncto Spielgestaltung hinter den Erwartungen zurück. In den K.o.-Runden halfen individuellen Klasse und die wachsende Routine in Drucksituationen. Selbst in scheinbar aussichtslosen Momenten bewahrten das Team die Ruhe; im Vertrauen darauf, dass die Gegnerinnen nachlassen oder nervös werden. Dieses Kalkül ging mehrfach auf – und erinnert stark an die Männer an der EM 2024.

Die fehlende Spielkontrolle wird vor allem gegen Spanien sichtbar

Doch gegen Spanien reichte diese Mischung zuletzt nicht. Deren Spielkontrolle, sowohl bei den Frauen als auch bei den Männern, entlarvt die englischen Schwächen im kombinativen Bereich. Beim EM-Triumph 2022 konnten die Lionesses Spanien im Viertelfinal noch mit ihrem Powerfussball bezwingen. Warum das seither nicht mehr gelang, führte Spaniens Weltfussballerin Aitana Bonmatí vor dem Turnier gegenüber ESPN aus: Man habe damals schon über Technik und Talent verfügt, sei körperlich aber unterlegen gewesen – genau daran habe man intensiv gearbeitet. Nun könne man auch physisch mit England mithalten, so Bonmatí. Während Spanien die körperlichen Rückstände also zügig aufholen konnte, tut sich England schwer, das eigene Spiel mit Struktur und Kreativität auszustatten. Dieser Mangel wurzelt tief in der nationalen Spielphilosophie und beeinflusst bis heute die Nachwuchsausbildung. So verläuft die spielerische Entwicklung schleppend, gemessen an den hohen Ansprüchen.

Im Final von Basel werden die Engländerinnen daher einmal mehr über ihre physische Präsenz kommen müssen – und dabei von einem Vorteil profitieren: In zwölf der letzten 13 EM- und WM-Finals der Frauen und Männer seit 2012 setzte sich jeweils jene Mannschaft durch, die ihr Halbfinal einen Tag vor dem Gegner absolviert hatte; im anderen Fall wurden beide Halbfinals am gleichen Tag ausgetragen. Das spricht für Englands Titelverteidigung, das diesmal einen Tag mehr Regeneration hatte. Und für die Chance, zu verhindern, dass Spanien zur neuen Nemesis wird. Zum neuen Deutschland.

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