England spielt nur 1:1 gegen Dänemark
Englands Suche nach einem neuen Paul Scholes
22. Jun 2024, 00:44 Uhr
Die englische Nationalmannschaft liefert trotz Tabellenführung bei der EM zwei inspirationslose Auftritte. Dem Team fehlt es an Tempo im Angriff und an einem Taktgeber im Mittelfeld. Trainer Gareth Southgate wird stark kritisiert und nimmt die Schuld auf sich – weil er dem Überstehen der Vorrunde alles unterordnet.
Wie ein Ersthelfer lief Gareth Southgate unmittelbar nach dem Abpfiff auf den Platz. Der Trainer der englischen Nationalmannschaft ließ keine Zeit verstreichen, um seine Spieler aufzubauen. Die meisten Profis hatten sich enttäuscht auf den Boden fallen lassen, weil sie vermutlich ahnten, dass das Remis gegen Dänemark den Erwartungen der englischen Öffentlichkeit nicht gerecht werden würde. Das traditionell anspruchsvolle Mutterland des Fußballs hatte schon den Auftakterfolg gegen Serbien beanstandet. Für den erneut inspirationslosen Auftritt von England übernahm Southgate die volle Verantwortung. „Blame me!“, gebt mir die Schuld, verfügte er sinngemäß in der Analyse.
Im Gegensatz zu den Kritikern, die stets urteilen, als hätte England seit dem WM-Sieg 1966 alle Turniere gewonnen und nicht verloren, hat der 53-Jährige nicht vergessen, dass die Nationalelf vor seinem Dienstantritt im Herbst 2016 zehn Jahre lang kein K.-o.-Spiel für sich entschieden hatte. In dieser Zeit handelten sich die Three Lions 2014 ein WM-Vorrundenaus ein und 2016 eine EM-Blamage gegen Island; 2008 hatte sich das Land nicht einmal für die EM qualifiziert. Aus diesem Grund legt Southgate partout die Demut nicht ab, dem Überstehen der Vorrunde alles unterzuordnen. Und so akzeptierte er eben gewissermaßen das 1:1 gegen die hartnäckigen Dänen nach Toren von Harry Kane und Morten Hjulmand, als er spürte, sie würden am Donnerstag nicht zu bezwingen sein. Aus seiner Sicht liest sich die Punkteteilung in der Tabelle wesentlich besser, als sie zuvor auf dem Platz ausgesehen hatte.
Wie 2021 und 2022 endet Englands zweites Spiel unentschieden
Mit vier Punkten führt England die Gruppe C an und ist damit praktisch vor dem Abschlussmatch gegen den vermeintlich schwächsten Vorrundengegner Slowenien für das Achtelfinale qualifiziert. Auf dieselbe Art hatte Southgate schon bei den vergangenen zwei Turnieren taktiert. In der zweiten Partie gab es jeweils ein nervöses torloses Unentschieden: bei der EM 2021 gegen Schottland und bei der WM 2022 gegen die USA. Die Reaktionen fielen damals wie heute heftig aus. Die Experten zerpflückten die Nationalelf wie ein Erntehelfer ein reifes englisches Erdbeergut. Sie fanden, der Dänemark-Auftritt sei furchtbar und leblos gewesen – und der Trainer hole nicht genügend aus den Spielern heraus. Der Guardian spottete, wer sich nach dem Livespiel zusätzlich noch eine Nachbetrachtung des Geschehens durchlese, müsse geradezu ein Schotte sein. Die Schotten sind bekanntlich Englands Auld Enemy, der alte Feind.
Der mediale Rundumschlag verkannte allerdings mehrere schlüssige Argumente für das Resultat: erstens die Qualität der Dänen, die England schon im siegreichen EM-Halbfinale 2021 schwer zugesetzt hatten; zweitens den Zustand des Rasens in Frankfurt, der haltlos war wie Moos und daher kaum ein attraktives Offensivspiel zuließ; und drittens den enormen Druck, dem die als Mitfavorit gehandelten Engländer ausgesetzt sind. Dies deutete der Trainer mehrmals an, indem er seinen Spielern eine „ängstliche Leistung“ attestierte. Sie würden sich „zu sehr kümmern“, glaubte Southgate.
In der Heimat wird das Team zerpflückt wie ein reifes Erdbeerfeld
In den Vorjahren erwies sich jeweils die letzte Vorrundenpartie eines Turniers – auf Basis des quasi gesicherten Weiterkommens – als Befreiungsschlag für den weiteren Turnierverlauf. Dass die Engländer jetzt abermals die schwere Last einer möglichen Blamage fürs Erste los sind, könnte Southgate helfen, im Duell mit Slowenien einige Anpassungen vorzunehmen. Seinem Team fehlt es etwa an Geschwindigkeit im Angriff und an einem Gestalter im Spielaufbau, einem, der dort das Tempo vorgibt und das Spiel strukturiert. Declan Rice ist in der Spielfeldmitte ein zweikampfstarker Abräumer, der umfunktionierte Rechtsverteidiger Trent Alexander-Arnold ein Passspezialist, Jude Bellingham ein Allrounder und Phil Foden ein offensiver Freigeist. Den nachdrängenden Jungprofis Adam Wharton und Kobbie Mainoo mangelt es an internationaler Erfahrung.
In anderen Ländern füllen durchweg Ausnahmespieler die Position des Taktgebers aus: Toni Kroos in Deutschland, Rodrigo in Spanien, Jorginho in Italien und Adrien Rabiot in Frankreich. England besaß auch einmal einen solchen Spieler, allerdings ist das zwanzig Jahre her, sein Name war Paul Scholes. Die Folge ist, dass die Three Lions keine Balance und Stabilität im Spiel finden. Zu sehen war das gegen Serbien und Dänemark auf fast identische Art. Die Southgate-Elf dominierte jeweils die Anfangsphase vielversprechend, bevor sie die Kontrolle verlor und sich in die Defensive drängen ließ.
England felt ein Taktgeber im Spielaufbau
Um das schon lange vorhandene Problem zu beheben, setzte Southgate im ersten Spiel auf ein Dreier-Mittelfeld mit Bellingham, Rice und Alexander-Arnold. In der zweiten Partie sicherten nur noch Rice und Alexander-Arnold defensiv ab, Bellingham rückte weiter nach vorne. Als Reaktion auf die zunehmende Passivität wechselte der Trainer in der zweiten Halbzeit stets den Pressing-Spieler Conor Gallagher für Alexander-Arnold ein. Doch nun sind Änderungen in der Startelf wohl unausweichlich. Denn in der aktuellen Statik kommen weder der Linksaußen Foden noch der Kapitän Harry Kane zur Geltung.
Foden zieht häufig in die Mitte und steht sich dann mit dem ähnlich agierenden Bellingham bisweilen auf den Füßen. Ebenso ist es ihm als Linksfuß auf dem Weg ins Zentrum selten möglich, direkt abzuschließen. Seinen Pfostenschuss gegen Dänemark setzte er von der halbrechten Seite ab. Und Kane benötigt einen antrittsschnellen Partner an der Seite, den er mit cleveren Laufwegen in Position bringen könnte. Sowohl er als auch Foden und Bellingham sind exzellente Passspieler, aber als Ballempfänger steht meist nur der dribbelstarke Rechtsaußen Bukayo Saka zur Verfügung. Daher wirkt ein zusätzlicher explosiver Flügelspieler dringend notwendig, zumal auch das Forechecking energischer werden muss. So könnte Foden zum Spielmacher werden und Bellingham zu Rice nach hinten rücken.
Angesichts der Stimmungslage in England erscheint die wichtigste Maxime nun zu sein, in der angespannten Situation die Ruhe zu bewahren. Genau die versuchte Gareth Southgate nach Spielende auszustrahlen.