Gareth Southgate und England

Toxischer Wind aus der Heimat

27. Jun 2024, 17:30 Uhr

Ein nachdenklicher Trainer: Gareth Southgate sagt, dass man derzeit sehr dahinter sein müsste, damit den Spielern ein Einsatz im Nationaltrikot Freude bereite. (Foto: Adam Davy / Imago)
Ein nachdenklicher Trainer: Gareth Southgate sagt, dass man derzeit sehr dahinter sein müsste, damit den Spielern ein Einsatz im Nationaltrikot Freude bereite. (Foto: Adam Davy / Imago)

Trotz des Gruppensiegs wird Gareth Southgate angefeindet und mit Bierbechern beworfen. Auf tragische Art wird er zum Opfer seines eigenen Erfolgs. Unter der maßlosen englischen Erwartungshaltung leiden besonders die Spieler, die keinen Pass zum Mitspieler bekommen.

Von Sven Haist, Köln

Nach dem dritten frustrierenden EM-Spiel der Engländer bewies Gareth Southgate jenen Mut, der seiner Mannschaft zuvor gefehlt hatte. Der Trainer trotzte der Empörung im Kölner Stadion und lief vorneweg auf die englischen Fans zu – als Schutzschild für sein ihm nachfolgendes Team. Die Anhänger schleuderten ihm volle Bierbecher von den Tribünen entgegen, sie landeten bedrohlich nahe vor seinen Füßen. Doch Southgate hätten wohl selbst Bierfässer nicht zum Umkehren bewegt. Der 53-Jährige hat in seiner Laufbahn als Spieler und Trainer schon schwierigere Situationen durchgestanden, etwa seinen verschossenen Elfmeter im Halbfinale der Heim-EM 1996 gegen Deutschland. Der hatte ihn lange zur Zielscheibe der Nation gemacht.

Wie sein Dank für den bittersüßen Support der Fans daheim in England aufgenommen wurde, fasste die Gefühlslage dort gut zusammen. Viele konnten dem Kalauer nicht widerstehen, dass Southgate bei seiner Stadionhalbrunde dem Tor näher gekommen sei als seine Spieler beim zähen 0:0 gegen Slowenien, den 57. der Weltrangliste. Der Spott an vielen Stammtischen passte zu den harten Einschätzungen von Boulevardpresse und Expertenfraktion. Die verstehen sich in England nie als Feuerlöscher, sie sind eher Brandstifter.

Die Sun schreibt, Southgate habe Gold in Metall verwandelt – dabei ist es umgekehrt

Das Massenblatt Sun fand, Gareth Southgate sei ein „umgekehrter Alchemist“, der „Gold in unedles Metall“ verwandle. Dabei missinterpretiert diese Analyse das Gesamtwerk des Trainers. Southgate ist eher das Gegenteil gelungen, seit er 2016 die Nationalelf nach dem EM-Achtelfinal-Aus gegen Island und dem folgenden 67-Tage-Trainerflop Sam Allardyce übernahm. De facto formte er aus einer wirklich rostigen Nationalelf wieder einen Edelstein. Unter seiner Regie wurde England WM-Vierter 2018, EM-Zweiter 2021 und WM-Viertelfinalist 2022. Es ist die beste Bilanz eines England-Coaches seit dem Weltmeistertrainer Alf Ramsey 1966.

Durch diese Erfolge zog Gareth Southgate das Fußballland aus dem Sumpf des Fatalismus, in dem es mehrere Jahrzehnte versackt war. Der Menschenfreund Southgate löste Euphorie aus und demonstrierte seinen Landsleuten, die im Fußball nur Himmel und Hölle kennen, dass man auch an Siegen unbeschwert Spaß haben kann. Zugleich aber brachten die starken Turnier-Platzierungen die alte maßlose Erwartungshaltung im Land zurück. Die kennt seit dem allerersten Anpfiff des Spiels nur einen Sieger: England – zwischenzeitlich hatte es dann wegen all der Pleiten, Penaltys und Partys bisweilen gar keinen Anspruch mehr gegeben.

Die toxische Berichterstattung beeinflusst selbst erfahrene Nationalspieler

Auf fast tragische Art scheint Gareth Southgate bei dieser EM nun zum Opfer des eigenen Erfolgs zu werden. Obwohl England die Vorrunde ungefährdet als Gruppensieger abschloss und damit in die angenehmere Hälfte des Turniertableaus rutschte, fällt die Kritik aus, als wäre man an Slowenien gescheitert. Es entsteht der Eindruck, das Land agiere manchmal gegen das eigene Team, vielleicht, weil man an Niederlagen gewöhnt ist – oder damit Aufregung erzeugt. Englands Chefkritiker Gary Lineker bewertete in seinem Podcast die Leistungen als „Scheiße“.

Er wurde von Harry Kane gemaßregelt. Der Kapitän des Teams verfügte, frühere Nationalspieler, die mit England nie einen Pokal gewonnen hatten – wie Lineker –, sollten einen Schritt zurücktreten. Southgate sagte, er kenne keine andere Nation, die sich fürs Achtelfinale qualifiziert habe und sich zugleich solcher Kritik ausgesetzt sehe. Seine Spieler würde das nicht unberührt lassen. Man müsse „sehr, sehr dahinter sein“, dass es weiter Freude bereite, das England-Trikot zu tragen, betonte er. Tatsächlich ist die Berichterstattung seit dem Turnierstart so toxisch geworden, dass sie selbst abgehärtete Nationalspieler beeinträchtigt. Der enorme Titeldruck im Land der seit Ewigkeiten Ungekrönten war den Engländern in der Gruppenphase bei jedem Schritt anzumerken.

Als es nichts mehr zu verlieren gab, schmolz das Eis in Englands Offensive

In der ersten Halbzeit gegen Slowenien erreichte die Verunsicherung einen Tiefpunkt. Vielen Profis wackelte der Fuß wie nie zuvor im Nationaltrikot, sie leisteten sich unerklärliche Aussetzer bei Ballannahme und Passspiel. England dominierte zwar – aber nur rund um die Mittellinie, fast niemand traute sich, den Ball zum gegnerischen Strafraum zu spielen. Der neu in die Startelf berufene, eingeschüchtert auftretende Mittelfeldspieler Conor Gallagher hatte in den ersten acht Minuten keinen einzigen Ballkontakt. Zur Pause erlöste ihn Southgate und nahm ihn raus.

Erst im zweiten Durchgang, als sich die Fans nicht mehr überwiegend über die Unzulänglichkeiten echauffierten, sondern ihrem Team den Rücken stärkten, fing das Eis in der Offensive der Engländer zu schmelzen an. Gareth Southgate beschleunigte den Prozess, indem er das kalkulierbare Risiko einging, die aufstrebenden Jungprofis Kobbie Mainoo und Cole Palmer einzuwechseln. Sie froren nicht fest und spielten unbelastet nach vorn.

“Spüre den Wind in den Haaren”, schreibt der Guardian. Er könnte sich gerade noch rechtzeitig drehen

Die Schlussphase des Slowenien-Spiels könnte nun ein Lichtblick und Positivansatz sein. Nach den Gruppenspielen entwickelte sich schon bei den vergangenen Turnieren unter Southgate eine Dynamik des Anpackens. Die Vorrunde ist für England wegen der riesigen Fallhöhe fast immer die größte Hürde. Der Guardian ermunterte das Team vor der Reise in die K.-o.-Phase mit einer Anspielung ans Gastgeberland, endlich die Handbremse zu lösen: Auf Deutschlands Autobahnen gebe es doch auch kein Tempolimit – „also komm schon, Gareth! Spüre den Wind in deinen Haaren!“, schrieb die Zeitung. Der Wind in England könnte sich also noch rechtzeitig drehen.

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