England erreicht EM-Viertelfinale

Pflaster über alle Mannschaftsteile

01. Jul 2024, 23:50 Uhr

Wer sonst außer er: Einen Tag nach seinem 21. Geburtstag bewahrt Jude Bellingham mit einem Fallrückziehr die Engländer vor dem EM-Aus. (GDA / Imago)
Wer sonst außer er: Einen Tag nach seinem 21. Geburtstag bewahrt Jude Bellingham mit einem Fallrückziehr die Engländer vor dem EM-Aus. (GDA / Imago)

Jude Bellingham rettet England mit einem Fallrückzieher vor einer Blamage und holt danach zu einem Rundumschlag gegen die Kritiker aus. Die sehen den Trainer Gareth Southgate als Hauptschuldigen für die unattraktive Spielweise. Dabei ist das Problem die aktuelle Verfassung vieler Spieler – sie reicht von fehlender Fitness bis hin zu privaten Problemen.

Von Sven Haist, Gelsenkirchen

„Who else?“, rief Jude Bellingham bei seinem Torjubel: Wer sonst? Tatsächlich konnte man sich keinen anderen englischen Spieler vorstellen, der fähig gewesen wäre, das Mutterland des Fußballs in der letzten Aktion der regulären Spielzeit vor einem ähnlichen Gesichtsverlust zu bewahren wie bei der EM-Blamage 2016 gegen Island. Dabei erzielte Jude Bellingham nicht einfach nur den Ausgleichstreffer (95.+1), er tat es mit einem grandiosem Fallrückzieher. Damit beschenkte er sich am Sonntag quasi nachträglich zu seinem eigenen Geburtstag, tags zuvor war er 21 Jahre alt geworden. Sein Mitspieler Harry Kane, Englands Rekordschütze, der mit Beginn der Verlängerung das 2:1-Siegtor gegen die Slowakei für den Einzug ins Viertelfinale nachlegte, ordnete Bellinghams Poesie als einen „der schönsten Treffer unserer Historie“ ein.

„Gott helfe uns, wenn Jude Bellingham erst anfängt, gut zu spielen“, schmachtete der notorisch grimmige TV-Experte Roy Keane in seiner Analyse. Wobei der Ire Keane sicher nicht Gefahr läuft, dass ihm irgendwann die Superlative ausgehen. Er war der einzige im ITV-Studio, und vielleicht sogar in ganz England, der diese Ballkunst mit verschränkten Armen bestaunte. Dass Keanes Lob zugleich suggerierte, Bellingham habe trotz seiner zwei Turniertore sein normales Leistungsniveau bisher nicht ansatzweise erreicht, fasste den unablässigen Dauertadel an England bei dieser EM treffend zusammen.

Jude Bellingham beklagt sich über den Druck aus der Heimat und die negativen Schlagzeilen

Doch diesmal ließ Jude Bellingham die Kritik nicht auf sich sitzen, er holte zum Rundumschlag aus. Sein Tor bedeute, dass der Mannschaft das Gefühl erspart werde, die Nation „im Stich gelassen zu haben“ – und „all der Müll“, der mit einer Pleite einhergegangen wäre, betonte der Mittelfeldspieler. Was er genau damit meinte? Das sei bekannt, zischte er. Es sollte an sich eine stolze Sache sein, das Nationaltrikot zu tragen, aber in der Realität sei es „häufig enorm hoher Druck“. Und wer könnte das besser beurteilen als Bellingham, der seit einem Jahr bei Real Madrid unter Erfolgsdruck steht?

Trotz seines jungen Alters und der enormen Spielbelastung in der Saison bei Real wird von Jude Bellingham in der Heimat erwartet, die Three Lions zum ersten EM-Titel zu schießen. Die Unzufriedenheit über die Anspruchshaltung ließ er in seinem Torschrei los. „Who else!“ richtete sich weniger an die Mitspieler als an die englische Öffentlichkeit. Dort wurde sogar über seinen Startelfplatz diskutiert, nachdem er im letzten Gruppenspiel verlautbart hatte, sich „absolut tot“ zu fühlen. Doch Gareth Southgate hielt an ihm fest, genau wie an Kapitän Kane, dem ebenfalls die Frische abgeht nach seinen Rückenbeschwerden beim FC Bayern am Saisonende. Der Trainer nahm beide erst spät in der Verlängerung vom Platz. Southgates Grund: Sie seien immer für eine spielentscheidende Aktion gut.

Die Charakterstärke der englischen Mannschaft ist auf Southgate zurückzuführen

In seiner knapp achtjährigen Amtszeit hat sich Southgate nie von den Stimmungsschwankungen in der Heimat aus der Ruhe bringen lassen. Erneut bewahrte er bei jedem Spielstand gegen die Slowaken die Contenance. Aus seiner Standhaftigkeit lässt sich einerseits die Charakterstärke der englischen Nationalelf ableiten. Die Three Lions zeigen Teamspirit, Beharrlichkeit und Widerstandskraft. Auf diese Art gelang es Southgate als erstem Coach überhaupt, die Engländer zum vierten Mal in Serie in ein Turnierviertelfinale zu führen. Am Samstag geht es in Düsseldorf gegen die Schweiz.

Andererseits legen Southgates Kritiker ihm seine manchmal stoisch wirkende Gelassenheit am Spielfeldrand als Plan- und Tatenlosigkeit aus. Ihm wird eine übervorsichtige taktische Herangehensweise unterstellt und nicht genügend Ideen, um die Qualitäten der vielen renommierten Spieler in seinem Kader harmonisch in Einklang zu bringen. Die englischen Fans und Medien trachten nach einem mitreißenden Angriffsfußball, wie er in der Regel von den Spitzenvereinen der Premier League präsentiert wird. Sie messen die Spieler mehr anhand des Potenzials als an ihrer aktuellen Verfassung. Dabei geht dem Team gerade in allen Mannschaftsteilen die Balance ab.

Shaw verletzt, Walker plagen private Probleme: Englands Abwehr wackelt

In der Abwehr muss der Rechtsfuß Kieran Trippier notdürftig als Linksverteidiger aushelfen, weil der dauerabsente Stammspieler Luke Shaw erst soeben wieder ins raining eingestiegen ist. Als Alternative hatte Southgate auf die Nominierung von Ben Chilwell verzichtet, weil der zuletzt beim FC Chelsea nicht mehr erste Wahl war. Auf der Gegenseite wirkt Rechtsverteidiger Kyle Walker wie neben sich. Der naheliegendste Grund für dessen ungewöhnliche Spielaussetzer dürften massive private Probleme sein. Walker hatte jahrelang ein chaotisches Doppelleben : Zusätzlich zu den vier Kindern mit Ehefrau Annie bekam er zwei weitere mit der Influencerin Lauryn Goodman. Goodman machte die Situation an Weihnachten 2023 detailliert öffentlich. Beide Frauen sind nun beim Turnier vor Ort und sorgen mit ihrer Präsenz für Schlagzeilen – vor allem Goodman, die sich durchweg zur Familiensituation äußert.

Trotz des Formverlusts vertraut Southgate Walker. Seine Geschwindigkeit in der Konterabsicherung ist dem Trainer zu wichtig, als ihm den offensivbegabteren Trent Alexander-Arnold vorzuziehen. Gegen die Schweiz kommt erschwerend die Gelbsperre des Innenverteidigers Marc Guéhi dazu, der bisher am konstantesten abliefert. Durch die Abwehrprobleme scheint Southgate seine ohnehin konservative Denkweise zu forcieren. Er ist zum Beispiel nicht bereit, die Außenverteidiger konsequent aufrücken zu lassen. Als er ihnen gegen die Slowaken ein bisschen mehr Freiraum gestattete, verlor die Defensive prompt ihre Stabilität.

Die unattraktive Spielweise liegt am fehlenden Taktgeber und Tempo

Ein weiterer Aspekt der unattraktiven Spielweise ist, dass England im Mittelfeld nach einem Taktgeber sucht – eine Leerstelle, die Southgate seit Jahren bemängelt und für die er selbst keine Lösung gefunden hat. Während der EM probierte er mehrere Spieler als Schnittstelle zwischen Abräumer Declan Rice und der hängenden Spitze Bellingham aus. Als belastbar hat sich nur Kobbie Mainoo von Manchester United empfohlen. Aber ihm mangelt es in seiner ersten Profisaison an Erfahrung, um dem Team sofort Tempo und Rhythmus vorzugeben. So fällt es den Engländern ausgesprochen schwer, den Ball flach durch das Mittelfeld zu kombinieren. Dies bremst das eigene Offensivspiel zusätzlich aus, weil im Sturm definitiv Geschwindigkeit fehlt. Sowohl Kane als auch Bellingham, Foden und Mainoo bevorzugen es, den Ball am Fuß zu haben, wodurch bloß Bukayo Saka für Steilpässe verfügbar ist.

Die Statik würde sich theoretisch aufbrechen lassen, im Angriff besitzt Southgate die meisten Optionen, wie die Einwechslungen gegen die Slowaken bewiesen haben. Doch Änderungen in der Startelf würden gleichfalls bedeuten, dass der Trainer einen der erwähnten Spitzenspieler auf die Bank setzen müsste. Dieses Wagnis will Southgate eher nicht eingehen, er stärkt lieber den Etablierten den Rücken – und nimmt dafür die Enttäuschung der Reservisten in Kauf. Der kopfballstarke Stürmer Ivan Toney, der letztlich das Kane-Tor auflegte, sei bei seiner Einwechslung zuvor als letzter Joker in der Nachspielzeit „ziemlich angefressen“ gewesen, berichtete Southgate.

Auch im Viertelfinale ruhen die Hoffnungen auf Jude Bellingham

Auf die abermalige Nachfrage zu den unansehnlichen Darbietungen der Mannschaft verwies Southgate ohne weitere Details darauf, er klebe „Pflaster über verschiedene Dinge“. Aus diesem Grund scheint es für die Engländer im Viertelfinale gegen die Schweiz erneut nur darum zu gehen, aus einer soliden Defensive heraus auf die individuelle Klasse der Mannschaft zu hoffen – und natürlich auf Jude Bellingham im speziellen. Wen sonst?

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