EM-Interview mit Paul Lambert
«Superstars? Die hatte Schottland nie!»
12. Jun 2024, 19:54 Uhr
Das EM-Eröffnungsspiel ist für Schottland das größte Match seit 26 Jahren. Im Interview erklärt Schottlands früherer Nationalspieler Paul Lambert, der mit Borussia Dortmund 1997 die Champions League gewann, warum Harmonie und harte Teamarbeit für sein Land wichtig sind, wie die Taktik gegen Deutschland aussieht und weshalb das Stadion in München beben wird.
Das Eröffnungsspiel der EM zwischen Deutschland und Schottland in München berührt kaum jemanden so sehr wie Paul Lambert, 54. Denn der Schotte wird nicht nur in der Heimat verehrt, aufgrund seiner Erfolge mit Celtic Glasgow und der Nationalelf, sondern er hat auch in Deutschland Denkwürdiges geleistet: Mit Borussia Dortmund gewann Lambert am Ende seines einjährigen Gastspiels beim BVB 1997 sensationell die Champions League. Beim 3:1 im Finale gegen Juventus Turin – ebenfalls in München (Olympiastadion) – schaltete er den großen Juve-Spielmacher Zinédine Zidane aus.
Lamberts Bekanntheit in Großbritannien ist so groß, dass ihm Englands Jude Bellingham einst unbedingt eines seiner Dortmund-Trikots schenken wollte. Als sich die beiden nach einem Spiel verabredeten und Bellingham sein nass geschwitztes Shirt übergab, entgegnete Paul Lambert trocken: „Jude, du kennst doch das Geheimnis eines Topspielers? Man schwitzt nicht!“ Zum Videogespräch meldet sich Lambert aus seinem Zuhause im englischen Nottingham. An der Wand hängt ein BVB-Trikot, sein Siegerdress von 1997.
BTL: Mister Lambert, vor dem EM-Start gegen Deutschland am Freitagabend steht Schottlands Fußball so sehr im Fokus wie zuletzt vor 26 Jahren. Schottland eröffnete die WM 1998 gegen den damaligen Weltmeister Brasilien – und Sie standen beim knappen 1:2 in der Startelf. Wie haben Sie den Hype damals erlebt?
Paul Lambert: Man hat eine Ahnung davon, aber man nimmt die Aufregung nicht wirklich wahr. Als Spieler ist man losgelöst von dem, was in der Heimat passiert. Wir wussten zwar, was das Spiel unseren Fans bedeutet, aber man versteht nicht richtig, was zu Hause vor sich geht. Man kann ja nicht in zwei Ländern gleichzeitig sein (lacht). Und im Spiel selbst denkt man eh nur daran, wie man gewinnen kann.
“Eröffnungsspiele sind immer enge Duelle”
Welche Erinnerungen haben Sie an das Match in Paris?
Der Anlass war unglaublich, weil Abermillionen Menschen zugeschaut haben, und weil jeder Fußballer einmal in seiner Karriere gegen Brasilien spielen will, noch dazu gegen das damalige Team. Meine Güte, das waren alles echte Weltklassespieler: Ronaldo, Dunga, Rivaldo, Leonardo, Cafu … Jeder erwartete, dass wir mit drei, vier, fünf Toren Unterschied verlieren würden. Aber so kam es nicht, es war ein enges Duell – wie so oft in Eröffnungsspielen, weil die Mannschaften erst ihren Rhythmus finden müssen. Zudem war der Druck auf Brasilien gewaltig. Für uns war das Match ein „freedom game“ (Bonusspiel).
Seit 1998 durfte Schottland nur ein weiteres Turnier spielen, die EM 2021, bei der man als Gruppenletzter nach der Vorrunde ausschied. Ist das Deutschland-Spiel deshalb das wichtigste seit damals?
Paul Lambert: Ja, ohne jeden Zweifel. Ich hatte nach der Auslosung dieses bittersüße Lächeln im Gesicht. Es ist ein großartiges Match für die Spieler, die Trainer, den Mitarbeiterstab und das ganze Land. Bei der EM 2021 haben wir zweimal in Glasgow gespielt, da entstand nicht das Gefühl, ins Ausland zu reisen und ein großes Turnier zu spielen. Stattdessen war eher die Last zu spüren, weil wir vor eigenem Publikum abliefern mussten.
“Das Spiel ist für Deutschland gefährlicher als für Schottland”
Wie sehen Sie die Ausgangslage diesmal?
Das Spiel ist für die Deutschen viel gefährlicher als für Schottland, weil die Erwartungshaltung in Deutschland sehr hoch ist. Wenn Deutschland uns unterschätzt und nicht gewinnt, gerät das Team sofort unter Zugzwang, dann ist ein Sieg im nächsten Spiel fast Pflicht. Schottland hat dagegen nichts zu verlieren, so wie wir 1998. Wir können ohne jede Angst befreit aufspielen. Holen wir ein Unentschieden, ist das schon ein unglaublicher Start. Deshalb denke ich, dass wir gegen Deutschland eine vernünftige Rolle spielen werden. Zugleich ist das Spiel ein guter Gradmesser dafür, wie weit wir in unserer Entwicklung gekommen sind.
Sehen Sie Ähnlichkeiten zwischen dem 1998er-Team und dem heutigen?
Paul Lambert: Damals hat es sich so angefühlt, als wären wir eine Vereinsmannschaft gewesen, so gut haben wir Spieler und die Trainer miteinander harmoniert. Ich finde, dass das aktuelle Team einen ähnlichen Geist besitzt. Eine geschlossene Mannschaft ist immer der Schlüssel zum Erfolg – für uns in besonderem Maße. Wir haben zwar aktuell viele gute Fußballer mit jahrelanger internationaler Erfahrung im Team, aber keine Superstars wie Messi oder Neymar. Auch früher hatten wir solche Ausnahmekönner nie. Das sind wir einfach nicht!
Wie wird Schottland gegen Deutschland vorgehen?
Paul Lambert: Wir müssen aggressiv und körperbetont in den Zweikämpfen sein, das liegt in unserer Kultur. Uns hat immer die harte Arbeit ausgezeichnet. Diese Einstellung war mit ein Grund, warum ich in Deutschland erfolgreich war, da sind sich beide Länder ziemlich ähnlich. Dazu müssen wir aber versuchen, selbst gut mit dem Ball zu agieren. Denn wir haben nicht die Spielertypen, um den Ball hoch nach vorn zu bolzen, wie es ja das Klischee bei uns ist. Es wird uns nichts bringen, nur zu warten und zu verteidigen. Wir dürfen keinen Respekt haben.
Das Problem der Schotten ist seit jeher das Toreschießen. Der bisher letzte Turniertreffer der Nationalelf gelang 1998, erzielt von Craig Burley. Sind Sie zuversichtlich, dass diese Serie endet?
Ich hoffe es einfach. Man kann ewig zurückgehen: Wir waren nie eine Nation, die viele Tore geschossen hat, obwohl wir in Denis Law, Kenny Dalglish, Joe Jordan, Steve Archibald und Charlie Nicholas wunderbare Offensivspieler hatten. Wir haben unsere Spiele immer knapp gewonnen, mit wenigen Toren. Unsere Treffer sind stets harte Teamarbeit. Deutschland hatte dagegen in der Nationalmannschaft Gerd Müller, Karl-Heinz Riedle, Jürgen Klinsmann oder Miroslav Klose. Da waren Tore, Tore, Tore garantiert.
Schottlands Mittelstürmer Lyndon Dykes musste verletzt aus dem Quartier abreisen und für die EM absagen. Wer ersetzt ihn?
Sein Ausfall ist ein schwerer Schlag für uns. Aber ich halte viel von Scott McTominay …
… dem Allrounder von Manchester United, der in der EM-Qualifikation mit sieben Toren treffsicherster Schotte war …
… ja, weil er ein gutes Timing im Strafraum hat. Ich weiß, er kann auch in der Abwehr spielen, aber aus meiner Sicht ist er im offensiven Mittelfeld am besten aufgehoben. Er stellt definitiv eine Gefahr für das gegnerische Tor dar.
“Es wird ein Partyfestival werden”
Wie schätzen Sie die Chancen auf ein Weiterkommen bei der EM ein?
Paul Lambert: Auf dem Papier ist Deutschland der Favorit der Gruppe – und die anderen drei Länder kämpfen dahinter um die Plätze. Aber die Spiele werden nie auf dem Papier entschieden (lacht). Wir glauben daran, dass wir eine Chance haben, erstmals bei einem Turnier die K.o.-Phase zu erreichen. Allerdings halte ich die Spiele gegen die Schweiz und vor allem gegen Ungarn für mental schwieriger. Sie sind ein größerer Stolperstein als die Deutschen.
Sie haben in Ihrer ersten Profisaison 1985/86 beim schottischen Klub St. Mirren FC mit dem heutigen Nationaltrainer Steve Clarke zusammengespielt, auch später sind Sie ihm immer wieder als Trainer in der englischen Premier League begegnet. Wie tickt er?
Paul Lambert: Als Spieler war er sehr schnell und stark. Er hat als rechter Verteidiger unser Spiel immer wieder über die Seite vorangetrieben. Ich habe in meiner Debütsaison unmittelbar vor ihm gespielt, bis er dann zu Chelsea gewechselt ist. Er hat mir sehr geholfen, mich in die Mannschaft zu integrieren. Steve ist ein netter, bescheidener Kerl, mit dem man gern zusammen ist. Er drängt sich nie in den Vordergrund, wie auch am Spielfeldrand zu sehen ist. Ich habe viel Respekt für ihn, und es wundert mich nicht, dass er eine tolle Arbeit abliefert. Aus meiner Sicht verdient er mehr Anerkennung, als er bisher erhält.
“Ich liebe Deutschland und mag die respektvolle Art”
Seit Clarke das Nationalteam im Mai 2019 übernahm, hat sich Schottland zweimal für die EM qualifiziert. Unter ihm hat sich das Land als Fußballnation auf großer Bühne zurückgemeldet.
Ja, die Tartan Army (Schottlands Fans) steht jetzt wieder hinter der Mannschaft und folgt ihr überallhin, wie das auch früher immer der Fall war. Der Support ist beinahe fanatisch. Zwischenzeitlich ging das ein bisschen verloren. Nun ist das Nationalstadion (in Glasgow) jedes Mal voll, wenn Schottland spielt. Und ich bin sicher: Es wird am Freitag einen Zustrom schottischer Fans geben, die das Stadion in München zum Beben bringen. Es wird ein Partyfestival werden. Die deutschen und schottischen Fans werden gut miteinander auskommen, weil wir immer für ein Bier zu haben sind und nie für Unruhe sorgen.
Kommen Sie auch zur EM?
Paul Lambert: Hundertprozentig, wenn es mein Zeitplan zulässt. Ich liebe Deutschland und mag die respektvolle Art und den Lebensstil der Deutschen. Ich bin regelmäßig zu Besuch, schaue mir die Fußballspiele in der ersten, zweiten und dritten Liga an und gehe auf die Weihnachtsmärkte. 2004 habe ich sogar meine Trainerlizenz in Köln gemacht, weil das Fußballwissen in Deutschland so ausgeprägt ist. Ich war damals in einem Kurs mit Jürgen Klopp, Olaf Janßen, Olaf Thon und Mike Büskens. Das war eines der besten Jahre meines Lebens.