Schottland vor EM-Auftakt gegen Deutschland

Kampfansage im Kilt

14. Jun 2024, 10:37 Uhr

Schottland tritt bei der EM wohl mit der stärksten Mannschat an - weil abertausende Fans das Nationalteam in Deutschland unterstützen. (Foto: Andrew Milligan / Imago)
Schottland tritt bei der EM wohl mit der stärksten Mannschat an - weil abertausende Fans das Nationalteam in Deutschland unterstützen. (Foto: Andrew Milligan / Imago)

Vor dem EM-Auftaktspiel gegen Deutschland herrscht in Schottland chronischer Optimismus vor. Weil zigtausende Fans die Spieler vor Ort unterstützen, tritt Schottland mit der wohl größten Mannschaft des Turniers an. Auf dem Platz herrscht Linkverkehr – und die größte Gefahr geht von einem Spieler aus, der so unscheinbar ist das Seeungeheuer von Loch Ness.

Von Sven Haist, München

Zur Einstimmung auf die EM hat der schottische Softdrink-Hersteller Irn Bru einen Werbefilm geschaltet, der durch einige kulturelle Anspielungen auf humorvolle Art die Ausgangssituation für das Eröffnungsspiel zwischen Deutschland und Schottland abbildet. Dabei nimmt der Spot den einst vom Deutschen Fußball-Bund für sein Nationalteam verwendeten Slogan „Die Mannschaft“ aufs Korn. In der Toilette eines zu einem bayrischen Biergarten umgebauten Gasthauses wäscht sich ein Schotte im Nationaltrikot und im karierten Kilt die Hände, als ein Deutscher dazustößt. Der Anhänger des Gastgeberlandes, der eine Deutschland-Flagge umgebunden hat, wendet sich an den Schotten und spricht ihn in leicht hochnäsigem Ton an: „Hey, Schottland, viel Glück mit eurer Mannschaft, ja …“

Der Schotte runzelt die Stirn und entgegnet verstimmt: „Mannschaft, eh? Deutschland, ihr werdet gleich sehen, was es mit der schottischen Mannschaft auf sich hat.“ Dann geht er zurück in die Kneipe, holt sich vom Ausschank einen mit Irn Bru (Energiebrause, orange) gefüllten Masskrug und setzt seinen Monolog fort: „In den vergangenen Jahren ist unsere Mannschaft stark und mächtig geworden. Es ist eine Mannschaft, die weiß, wie man über die volle Distanz geht“, sagt er – und schnappt sich frech eine Bratwurst vom Tablett einer Kellnerin, die gerade an ihm vorbeiläuft. Sein zünftiges Urteil dazu: „Oh Deutschland, eure Bratwurst kann es mit unserer Lorne (Wurst mit quadratischem Querschnitt) nicht aufnehmen.“

Die Zuschreibung “Mannschaft” passt auf keinen Teilnehmer besser als auf Schottland

Zum Schluss läuft der Schotte über einen langen Biertisch und tritt auf eine Reihe von vermeintlich deutschen Spezialitäten wie Brezeln und Hotdogs. Er richtet eine flammende Kampfansage an die Deutschen. Diese könnten zwar den Schotten die Sonnenliegen im Urlaub wegnehmen, aber niemals den Stolz auf ihre Herkunft: „Unsere Krüge sind immer halb voll. Also macht euch bereit, Deutschland – weil die schottische Mannschaft kommt.“

Tatsächlich passt die Zuschreibung „Mannschaft“ auf kaum einen EM-Teilnehmer besser als auf Schottland. Auch diesmal dürften die Schotten eines der größten Turnieraufgebote stellen – wie bei jedem Fußballevent, für das sie sich qualifizieren. Denn sie treten nicht nur mit den von Trainer Steve Clarke nominierten 26 Spielern an, sondern mit Abertausenden Landsleuten im Rücken, die keine Strapazen scheuen, um ihre Elf zu unterstützen. Ein Sportsfreund namens Craig Ferguson lief dieser Tage aus dem Hampden Park in Glasgow, dem schottischen Nationalstadion, zu Fuß bis nach München – dabei hatte er zu Beginn seiner Reise nicht mal ein Ticket für Freitagabend.

Schottland verfügt über drei renommierte Premier-League-Profis

Die Liebe zum Sport ist so tief in der schottischen Gesellschaft verwurzelt wie die Fairness, die Leidenschaft und der Zusammenhalt. Die Mannschaft steht im Land der Hügel, Täler und Seen stets im Vordergrund. So wird häufig vergessen, dass das aktuelle Team, dessen Spieler fast alle bei britischen Klubs angestellt sind, über drei international renommierte Premier-League-Profis verfügen: Linksaußen Andrew Robertson, 30, vom FC Liverpool, Allrounder Scott McTominay, 27, von Manchester United und Spielmacher John McGinn, 29, von Aston Villa.

Die drei fügen sich von ihrer Positionierung auf dem Spielfeld und auch von ihrem Auftreten her so unscheinbar ins Gesamtgefüge ein, dass sie selten auffallen. In gewisser Weise erinnern sie an das heimische Seeungeheuer von Loch Ness. Das Fabelwesen ist der Legende nach selten zu erkennen, kann aber zu jedem Zeitpunkt plötzlich Angst und Schrecken auslösen. In der EM-Qualifikation bekamen das vor allem die Norweger zu spüren, die trotz ihrer Spitzenspieler Martin Ödegaard und Erling Haaland überraschend an den Schotten scheiterten.

 Schottlands Spielweise gleicht dem klassischen britischen Linksverkehr, es geht nahezu alles über diese Seite. Immer wieder kurbelt der unermüdliche Robertson das Spiel an, er bildet mit dem meist vor ihm wirkenden McGinn ein eingespieltes Flügelgespann. Beide sind Linksfüßer, haben den gleichen Einsatzwillen und ergänzen sich von ihren Fähigkeiten: Robertson kommt über seine Läufe, McGinn über sein Spielverständnis.

Die Torgefährlichkeit von McTominay erinnert an Michael Ballack

Der typische schottische Spielzug sieht einen McGinn-Steilpass auf Robertson vor, der aus der Bewegung heraus flankt – idealerweise auf den nachrückenden Vollstrecker McTominay. Der offensivstarke Mittelfeldspieler erzielte mit seinen sieben Toren in der EM-Qualifikation knapp die Hälfte aller Schotten-Treffer, auch für Manchester United war er in der Liga zuletzt siebenmal erfolgreich. McTominays Vorstöße, bei denen er von seinem Timing und seiner Abschlussstärke mit Füßen und Kopf profitiert, ähneln denen des früheren DFB-Kapitäns Michael Ballack.

An diesen festen Größen sind die übrigen Spieler in den vergangenen Jahren gewachsen und bringen nun ihre unterschiedlichen Qualitäten in die Mannschaft ein. Der 23-jährige Billy Gilmour vom angesagten Klub Brighton & Hove Albion ist am Ball der wahrscheinlich talentierteste Akteur, er kann ihn halten und für Entlastung sorgen. Gilmour versprach in dieser Woche, die Deutschen unter Druck setzen zu wollen. Dennoch liegt der Fokus der Schotten grundsätzlich auf ihrer Abwehr, in die alle Feldspieler gleichermaßen einzahlen. Die Deckung ist zäh und standhaft – bei der EM 2021 verteidigten die Schotten sogar gegen die klar überlegenen Engländer stoisch ein 0:0 über die Zeit.

In der Vergangenheit wurden Schottlands Hoffnungen häufig enttäuscht

Das Selbstbewusstsein und die Unterstützung im Land sind so groß wie seit vielen Jahren nicht mehr. Im erwähnten Werbespot kündigt der schottische Fan sogar an, dass die Mannschaft bei dieser EM das Halbfinale erreichen könnte. Allerdings wohnt dem Optimismus der Schotten auch inne, dass ihre Hoffnungen am Ende fast immer enttäuscht werden.

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