Amtsantritt von Thomas Tuchel

Geheimnisvoll präsenter Auftragskiller

08. Jan. 2025, 12:48 Uhr

Vier Spiele in drei Tagen: Hier besucht Thomas Tuchel (Mitte) die Partie von Brighton & Hove Albion gegen den FC Arsenal (1:1). (Foto: Ian Tuttle /Shutterstock / Imago Images)
Vier Spiele in drei Tagen: Hier besucht Thomas Tuchel (Mitte) die Partie von Brighton & Hove Albion gegen den FC Arsenal (1:1). (Foto: Ian Tuttle /Shutterstock / Imago Images)

Thomas Tuchel hat sein Amt als englischer Nationaltrainer angetreten und gehört nun zu den prominentesten Fußballpersonen des Landes. Bereits an seinen ersten Arbeitstagen zeigt er sich in mehreren Stadien der Premier League. Die Spieler sollen wissen: „Der Boss ist das“. Doch über sein neues Team spricht er kaum.

Von Sven Haist, London

Womöglich konnte es Thomas Tuchel selbst nicht erwarten, bis er am 1. Januar mit seiner neuen Tätigkeit als englischer Nationaltrainer offiziell loslegen konnte. Schon am ersten Premier-League-Spieltag des neuen Jahres zeigte sich Tuchel auf der Insel, er besuchte gleich vier Spiele innerhalb von drei Tagen im Stadion: Am Samstag war er beim Mittagspiel Tottenham-Newcastle und beim Abendmatch Brighton-Arsenal, dann verfolgte er am Sonntag das Prestigeduell Liverpool-Manchester United und am Montag auch noch Wo­lverhampton-Nottingham.

„Busy“, fleißig, sei der Deutsche, schrieben die englischen Boulevardmedien beeindruckt. Nachdem sich Tuchel mit Englands Football Association (FA) im vergangenen Oktober auf eine Anstellung als Nationaltrainer von 2025 bis zur WM 2026 in den USA, Kanada und Mexiko geeinigt hatte, zog er es vor, sich der Öffentlichkeit erst mal fernzuhalten und in keinem Stadion aufzutauchen. Dies sei für ihn ein Zeichen des Respekts gegenüber dem Interimstrainer Lee Ca­r­sley, erklärte Tuchel damals. Diesen hatte die FA als Coach für die Nations-League-Spieltage im vergangenen Herbst im Anschluss an den Rü­cktritt von Coach Gareth Southgate nach der EM 2024 bestimmt. Tuchel wurde für seine Abwesenheit in England zunächst stark kritisiert.

Tuchel habe kaum einen Moment der Ruhe, schreibt die Zeitung Mail

Doch nun zeigt sich, warum er sich so verhalten haben dürfte. Denn mit seinem Amtsantritt ist Tuchel sofort zu einer der prominentesten Fußballpersonen des Landes geworden. Vermutlich gehört seine Personalie – als erster deutscher Trainer in der langen Historie der englischen Nationalelf – zu den kontroversesten and glamourösesten, die es im Länderfußball je gegeben hat. Angeblich soll er mit einem kolportierten Jahresgehalt von knapp zehn Millionen Euro einer der bestbezahlten Nationaltrainer der Geschichte sein. Das Boulevardblatt Mail notierte, der Trainer habe kaum einen Moment der Ruhe: Er werde von einem Medienauflauf begleitet, wie man es sonst nur von wichtigen Gerichtsprozessen kenne.

Tuchel dominierte Tuchel die Schlagzeilen bei seinen Stippvisiten. Dabei gab es von ihm immer bloß das eine stets gleiche Bild zu sehen – wie er eingepackt mit Parka und Kappe auf den Ehrentribünen saß. Er wirkte zufrieden, scherzte mit den Sitznachbarn und zeigte den Daumen nach oben. Ihm war anzumerken, dass er sich nach den Reibereien beim FC Bayern wieder „voller Energie“ fühle, wie er sagt.

Die Mitarbeiter in der Verbandszentrale begrüßen Tuchel mit Applaus

Auf der Fahrt von Liverpool nach Wolverhampton legte er am Sonntagabend sogar erstmals einen Zwischenaufenthalt in der Verbandszentrale ein, dem St. George’s Park bei Burton-upon-Trent in Mittelengland. Dort übe­rnachtete er und stellte am nächsten Tag sich und sein Trainerteam den FA-Mitarbeitern vor. Diese hatten ihn mit Applaus begrüßt. Auf dem Kurzvideo dazu inspizierte Tuchel, der eine blaue Verbandsjacke trug, das riesige Trainingsareal der Engländer, wo er in Zukunft die Lehrgänge der Nationalelf abhalten wird. Dabei begrüßte ihn der Altinternationale und Nachwuchscoach Ashley Cole herzlich. Mehr war insgesamt jedoch nicht zu verstehen.

Bisher hat sich Tuchel nur bei der Vorstellung im Wembley-Stadion im Oktober geäußert, bei der Auslosung der WM-Qualifikation in Zürich im Dezember – sowie bei seinen selbst aufgezeichneten Neujahrsgrüßen. Auffallend vermied er es immerzu, über sein Team zu sprechen. Er sagte verklausuliert, es sei noch „viel Fußball zu spielen“ bis zum Debüt im März. Zum Quali-Auftakt empfängt England zu Hause Albanien und dann Lettland. Lediglich zwei Signale sendete der Trainer bereits aus: Es gebe keinen Grund, über Torjäger Harry Kane, mit dem er bekanntlich beim FC Bayern zusammengearbeitet hatte, als Spielführer nachzudenken; und er deutete an, auf den Rechtsverteidiger Ben White vom FC Arsenal zuzugehen, der unter Southgate zuletzt nicht mehr für England auflaufen wollte.

Tuchel hält sich mit seiner Unverbindlichkeit alle Optionen offen

Weil sich Tuchel gewissermaßen präsent und zurückhaltend zugleich verhält, ist er für das englische Fußball-Publikum kaum zu greifen. Damit möchte er möglicherweise zwei Dinge vermitteln: dass ihm nichts entgeht und dass er sich alle Optionen offenhält. Seine Anwesenheit demonstriert erstens den Nationalprofis, dass die aktuellen Leistungen über die Kadernominierungen entscheiden werden. So macht Tuchel die Ankündigung wahr, dass man jeden Tag Nationalspieler und -trainer sei und nicht nur während den Länderspielblöcken. Diesem Anspruch müssten alle gerecht werden, verlangte er. Bei seinen Stadionbesuchen wolle er die Spieler keinesfalls stören, sie sollten nur wissen: „Der Boss ist da.“

Und zweites verschafft ihm die Unverbindlichkeit Zeit, sich erst mal selbst ein Gefühl für die Lage zu geben und sich nicht festlegen zu müssen. Dadurch kann ihn zunächst niemand an irgendwelchen Aussagen messen. Dazu kommt, dass Tuchel so die Gegner im Unklaren über seine Ausrichtung lässt.

Die Erwartungshaltung ist hoch: Von Tuchel wird Raffinesse erwartet

Allerdings sorgt Tuchels mitunter geheimnisvoll wirkendes Vorgehen für erhöhten Druck. Denn Englands Erwartung an den Trainer ist zunehmend hoch, weil er mit einer Raffinesse aufwarten kann, die sein Vorgänger Southgate trotz aller Erfolge in den vergangenen Jahren nie gezeigt hat. Die Times stellte Tuchel nach seiner Zusage als „Auftragskiller“ vor – in Anspielung an sein Gastspiel beim FC Chelsea, als er den Verein nach seiner Anstellung binnen eines halben Jahres zum Titel in der Champions League 2021 gecoacht hatte.

In jedem Fall gefällt Thomas Tuchel seine neue Rolle in England. Sein Start wirkte, als wollte er mit einem Mal all jene Fußballspiel nachholen, die er zuletzt während seiner Auszeit verpasst hatte.

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