Vorstellung von Thomas Tuchel

Thomas Tuchel ist Englands letzte Hoffnung

18. Okt. 2024, 14:40 Uhr

Glücklich auf der Insel: Thomas Tuchel kehrt nach seiner Zeit beim FC Chelsea nun als Nationaltrainer zurück nach England. (Foto: Marc Aspland / Imago Images)
Glücklich auf der Insel: Thomas Tuchel kehrt nach seiner Zeit beim FC Chelsea nun als Nationaltrainer zurück nach England. (Foto: Marc Aspland / Imago Images)

Thomas Tuchel präsentiert sich bei seiner Vorstellung als englischer Nationaltrainer gut gelaunt und als Gentleman. Die Anstellung eines Deutschen, dem Fußball-Erzrivalen des Landes, schien lange undenkbar zu sein. Trotz der Kritik hofft Tuchel auf eine „faire Chance“.

Von Sven Haist, London

Wenn England über Thomas Tuchel spricht, fällt immer wieder ein Begriff: „Rulebreaker“, der Regelbrecher. Die Bezeichnung geht auf einen Impulsvortrag von Tuchel zurück, als dieser vor einem Jahrzehnt als Bundesliga-Trainer des FSV Mainz 05 bei einem Kongress des Zukunftsinstituts „2b Ahead“ über den Ausbruch aus Routinen referierte. Später wurde eine Biografie über Tuchel so benannt, die unter demselben Titel in England erschien. In seinem ersten Satz erwähnte Tuchel damals, dass er seine Profilaufbahn als Trainer ebenso einem „Rulebreaker“ zu verdanken habe, dem Mainzer Manager Christian Heidel. Der hatte unmittelbar vor dem Saisonstart 2009 seinem A-Jugend-Coach Tuchel ohne jede Bundesliga-Erfahrung den Job anvertraut.

Thomas Tuchel stellt sich gut gelaunt als neuer englischer Nationaltrainer vor.

Die Episode von einst wiederholt sich jetzt in gewisser Weise auf Nationalmannschaftsebene. Diesmal sind Englands Football Association (FA) und Tuchel die Regelbrecher, weil der Verband erstmals in seiner 160-jährigen Historie mit Tuchel einen Coach aus Deutschland, dem Land des Fußball-Erzrivalen, als Nationaltrainer ausgesucht hat. Und Tuchel nahm das Angebot kurz entschlossen an. Der Deutsche ist so etwas wie die letzte Hoffnung der Engländer, die seit dem WM-Heimsieg 1966 anhaltende Titellosigkeit des Männerteams zu beenden – nachdem sie so viele schmerzliche Turnierniederlagen gegen die Germans kassiert haben.

Er liebe es einfach, in England zu arbeiten, sagt Thomas Tuchel

Er sei sehr stolz und empfinde es als Privileg, dass ihm die Ehre erwiesen werde, die englische Nationalelf zu trainieren, sagte Tuchel bei seiner Vorstellung im Wembley-Stadion am Mittwoch gerührt. Seine Ambition sei es, Englands Traum vom ersten WM-Titel nach dann genau 60 Jahren beim Turnier 2026 in den USA, Kanada und Mexiko zu verwirklichen und damit für einen „zweiten Stern auf dem Trikot“ zu sorgen. „Das Ziel für die nächsten 18 Monate ist kein geringeres als das höchste im Weltfußball“, betonte er, „da kann sich jeder sicher sein – unabhängig davon, welche Nationalität auf meinem Pass steht.“

Seine neue Rolle erwecke in ihm das „junge Ich“ und seine „Teenager-Tage“, sagt er. Auf dem Weg zur Pressekonferenz in London habe er ein Zitat von Pelé aufgeschnappt, der einst über Wembley sagte, es sei das Herzstück des Fußballs (obwohl der Brasilianer selbst nie in diesem Stadion gespielt hatte). Diese Sicht könne er, Tuchel, nur bestätigen. Er liebe es einfach, in England zu arbeiten. Zu seiner neuen Mannschaft äußerte sich Tuchel noch nicht.

Tuchel präsentierte sich wie ein Gentleman, es fühlte sich an, als käme er „nach Hause“

Die Boulevardzeitung Sun begrüßte Tuchel überschwänglich mit einer deutschen Titelseiten-Schlagzeile: „Fußball kommt nach Hause!“ – eine Übersetzung der englischen Hymne „Football’s coming home“. In der Vorwoche einigten sich die FA und Tuchel auf eine Tätigkeit über 18 Monate von Januar 2025 an bis zur WM 2026. Seinen Einstand als Nachfolger des Engländers Gareth Southgate wird Tuchel beim Länderspielblock im kommenden März geben. Bei den letzten Nations-League-Spielen im November betreut weiterhin Interimstrainer Lee Carsley die Three Lions.

Im Vergleich zum zurückliegenden Engagement beim FC Bayern in der Vorsaison präsentierte sich Tuchel in London ausgesprochen gut gelaunt und ausgeruht. Es fühlte sich tatsächlich so an, als käme er irgendwie „nach Hause“, obwohl er ja aus Krumbach in Schwaben stammt. Er kleidete sich am Mittwoch sogar wie ein englischer Gentleman, trug weißes Hemd und schwarzes Sakko. Schon seit langer Zeit fühle er eine „persönliche Verbindung“ mit dem englischen Fußball, bekräftigte der 51-Jährige. Im Januar 2021 hatte Tuchel den FC Chelsea übernommen und noch in derselben Saison überraschend zum Champions-League-Titel geführt, seinem bisher größten Erfolg als Trainer. Im damaligen Finale besiegte Chelsea den von Pep Guardiola trainierten Favoriten Manchester City – indem Tuchel bisweilen mit den Regeln brach.

Tuchels bisher größter Erfolg ist der Champions-League-Sieg mit Chelsea 2021

Am Vortag dieses Endspiels stellte er auf dem Hotelbalkon spöttelnd die Gesten des Kollegen Guardiola nach. Der Clip ging viral und steht auf der Insel seitdem sinnbildlich für den Chelsea-Triumph. Denn der manchmal zu taktisch ungewöhnlichen Entschlüssen neigende Guardiola beging seinerzeit tatsächlich einen Fehler – indem er überraschend auf eine Mittelfeldabsicherung verzichtete und von Tuchel prompt ausgekontert wurde.

Auch eine Verpflichtung Guardiolas, dessen Vertrag in Manchester im nächsten Sommer ausläuft und dessen Zukunft unklar ist, soll die FA erwogen haben. Sie entschied sich aber letztlich für dessen Nemesis. Tuchel gebe England „die bestmögliche Chance“, den WM-Pokal 2026 zu gewinnen, ist FA-Geschäftsführer Mark Bullingham überzeugt. Tuchel gilt in der Szene wegen seines taktischen Geschicks als Spezialist für K.-o.-Spiele und wird aufgrund seiner bisherigen Titelsammlung als verlässlicher Sieger wahrgenommen. Diese Reputation soll den ewig ungekrönten Engländern das Zutrauen geben, die eigene Durststrecke endlich hinter sich zu lassen. Nach zwei verlorenen EM-Finals 2021 und 2024 ist der aktuell vorherrschende Eindruck, dass die Männer um den (auch im Klubfußball titellosen) Kapitän Harry Kane im Augenblick nicht unbedingt an den Erfolg glauben.

Thomas Tuchel könnte zum „X-Faktor“ werden, glaubt die Times

Auf ein solches Phänomen kam Tuchel einst ebenso in seiner Rulebreaker-Rede zu sprechen. Er zitierte den US-Basketballer Michael Jordan, der berichtet hatte, immer und immer wieder in seinem Sportlerleben versagt zu haben – und genau deshalb am Ende so erfolgreich geworden zu sein. Daraus zog Tuchel die Erkenntnis, man sollte nicht die Misserfolge vergessen, sondern die Erfolge. Denn die könnten womöglich zu Behaglichkeit führen. Die Zeitung Times mutmaßt, Tuchel könnte für England zum „X-Faktor“ werden.

Die Anstellung eines Deutschen als England-Trainer schien lange Zeit unvorstellbar zu sein, schon der Gedanke daran wirkte auf der Insel fast verstörend. Die Deutschen fanden in Englands Fußballöffentlichkeit kaum Erwähnung – beziehungsweise nur bei Länderspielduellen, wenn einige unbelehrbare Engländer mal wieder im Stadion versuchten, mit dem scharf kritisierten Schlachtruf „Ten German Bombers“ den Kampf gegen Nazi-Deutschland aufleben zu lassen. Das Lied über die zehn deutschen Bomber – die gemäß den Lyrics einer nach dem anderen abgeschossen werden – hatten die Engländer während des Nazi-Angriffs auf Großbritannien im Zweiten Weltkrieg intoniert. Der Guardian fragte nun etwas eigenartig, ob Tuchel dieses englische Lied denn mitsingen würde? Diese Anspielung sollte dem Blatt zufolge ausdrücken, wie „unmöglich seltsam und schwierig“ sich Tuchels Tätigkeit wegen der historischen Komponente der beiden Länder anfühle.

Tuchel kann das gespaltene England verstehen, hofft aber auf eine „faire“ Chance

Tuchel hatte aber schon mit seinem verbindlichen Auftreten beim FC Chelsea dazu beigetragen, dass sich das einst angespannte Verhältnis zwischen Deutschen und Engländern normalisiert hat. Die Öffentlichkeit nimmt ihn überwiegend als „anglophil“ wahr – als jemanden, der den Engländern und ihrer Kultur aufgeschlossen gegenübersteht. Es tue ihm leid, einen „deutschen Reisepass“ zu haben, entschuldigte sich Tuchel am Mittwoch witzelnd – und er lobte die Nationalhymne „God Save the King“, die ihn immer „berührt“ habe. Ob er sie auch vor den Länderspielen demnächst mitsinge? Das habe er „noch nicht entschieden“, wich Tuchel aus.

Tuchel ist offensichtlich bemüht, das bezüglich seiner deutschen Herkunft gespaltene Fußball-England hinter sich zu vereinen. Er könne verstehen, wenn es Engländer gebe, die einen Nationaltrainer aus dem eigenen Land bevorzugen würden, er hoffe aber auf eine „faire Chance“, sagte er. Die Mail hatte am Mittwoch getobt, England benötige „keinen Thomas Tuchel, sondern einen Patrioten“. Diesem harten Urteil liegt wohl auch zugrunde, dass mit der Tuchel-Personalie dem stolzen Fußball-Mutterland vor Augen geführt wird, derzeit über keinen eigenen geeigneten Mann für den Nationalposten zu verfügen.

Noch nie gelang es einem ausländischen Trainer, mit einer Nation die WM zu gewinnen

Der Verband versuchte dieser Diskussion die Schärfe zu nehmen, indem gleich im ersten Satz des FA-Statements auf Tuchels englischen Assistenten Anthony Barry verwiesen wurde. Barry, der mit Tuchel schon bei Chelsea und Bayern zusammengearbeitet hat, wirkt wie eine Klammer zwischen England und Deutschland. Um die Zustimmung des ganzen Landes zu erhalten, müsste Tuchel die Engländer wohl wirklich auf den WM-Thron führen. Ein solcher Coup wäre ein weiterer Bruch mit Gesetzmäßigkeiten – denn bisher ist es keinem ausländischen Trainer gelungen, mit einer anderen Nation Weltmeister zu werden.

Keep on reading

Am Ball bleiben