Thomas Tuchel übernimmt England

Energiespritze gegen die Selbstzweifel

18. Nov 2024, 19:29 Uhr

Interimstrainer Lee Carsley verabschiedet sich von seinen Superstars Harry Kane und Jude Bellingham. (Foto: Javier Garcia / Shutterstock / Imago Images)
Interimstrainer Lee Carsley verabschiedet sich von seinen Superstars Harry Kane und Jude Bellingham. (Foto: Javier Garcia / Shutterstock / Imago Images)

Interimscoach Lee Carsley führt die englische Nationalmannschaft zurück in den A-Pool der Nations League. Er hinterlässt dem neuen Nationaltrainer Thomas Tuchel einen Kader mit vielen Talenten – aber auch altbekannten Problemen. Torjäger Kane erhofft sich von Tuchel eine Energiespirtze für das Team.

Von Sven Haist, London

Nach seinem letzten Länderspiel als Interimscoach für England kündigte Lee Carsley eine geordnete Übergabe an den neuen Nationaltrainer Thoms Tuchel an. Er werde in einem Dokument seine Erkenntnisse aus den vergangenen Monaten niederschreiben und sich dann mit Tuchel treffen, sagte Carsley. Ein solches Dossier könnte wohl tatsächlich notwendig sein, um nach dem Rücktritt des langjährigen Teamchefs Gareth Southgate nach der EM 2024 den Überblick bei den Three Lions zu behalten. Denn im Länderspieljahr 2024 erhielten 49 Spieler eine Nominierung für das Nationalteam, 32 davon kamen unter Carsley zum Einsatz.

Harry Kane spricht über den neuen englischen Nationaltrainer Thomas Tuchel.

Der bisherige U-21-Trainer Carsley, der in diese Rolle ab sofort wieder zurückkehren wird, ermöglichte auch wegen zahlreichen verletzungsbedingten Absagen acht Spielern das Länderspieldebüt in den sechs Nations-League-Partien. Die Zahl an Kandidaten für das A-Team hat sich dadurch weiter vergrößert. Ihr Talentreservoir demonstrierten die Engländer beim 3:0 gegen Griechenland und zum Abschluss am Sonntag beim 5:0 gegen Irland, was die Rückkehr in den A-Pool der Nations League bedeutet: Die acht Tore erzielten acht versc­hi­e­dene Profis, für die Hälfte war es der jeweils erste Treffer im England-Trikot.

Tuchel soll ein Zwei-Sterne-Menü entwickeln

Aus diesem stattlichen Speicher an sehr guten bis außergewöhnlichen Spielern obliegt es Tuchel auf dem Weg zur WM 2026 in den USA, Kanada und Mexiko, eine Topmannschaft zu formen. Die Personaloptionen könnten sich für die Engländer durch die zunehmende Belastung für Spitzenspieler über die nächsten anderthalb Jahre hinweg als Vorteil erweisen. Die Situation des deutschen Trainers erinnert dabei an die eines Küchenchefs, der aus Delikatessenzutaten ein Sterne-Menü entwickeln soll – im konkreten Fall: ein Zwei-Sterne-Menü für den zweiten englischen Trikotstern auf der Brust nach dem bisher einzigen WM-Titel 1966.

Grundsätzlich passt die Auftragslage zu den Fähigkeiten Tuchels, der sich in der Vergangenheit aufgrund seiner taktischen Fähigkeiten besonders geschickt darin gezeigt hat, eine Erfolgsformation für das Potenzial eines Teams zu kreieren. Den FC Chelsea führte er auf diese Weise auf Anhieb nach seinem Dienstantritt zum Champions-League-Titel 2021. Bei den Engländern trifft er auf eine Reihe an Spielern, die er auf seinen Klubstationen bereits verpflichten wollte oder dort schon trainiert hat, darunter der Torjäger Harry Kane vom FC Bayern. Er freue sich auf das Wiedersehen und darauf, wie Tuchel die Mannschaft einstellen werde, sagt Kane.

Die Nationalelf habe über allem zu stehen, mahnt Kane

Die Engländer akzeptieren Tuchel als Respektsperson auf Basis seiner Erfahrung und Erfolge, seine Laufbahn kann ohne Weiteres mit den Karrieren der besten Spieler mithalten. Die sich daraus ergebende Autorität dürfte helfen, den sich gerade vollziehenden Umbruch im Team zu moderieren. Die neue Generation an Spitzenspielern um Jude Bellingham (Real Madrid), Phil Foden (Manchester City), Bukayo Saka (FC Arsenal) und Cole Palmer (FC Chelsea) löst in der Hierarchie immer mehr einst arrivierte Stammkräfte ab. Für Tuchel geht es darum, keine möglichen Eitelkeiten aufkommen zu lassen und eine sinnvolle Verwendung für die in ihrem Spielprofil bisweilen ähnlichen Jungstars zu finden. Kürzlich mahnte Kane die Kollegen an, dass die Nationalelf „über allem anderen“ zu kommen habe.

Trotz der vorhandenen Qualität ist ein anhaltendes Problem der Engländer weiterhin nicht gelöst, obwohl Southgate und Carsley zahlreiche Varianten probiert hatten: Ihnen fehlt ein Gestalter im Spielaufbau, der die Struktur und den Rhythmus vorgibt. Declan Rice ist in der Spielfeldmitte zwar ein zweikampfstarker Abräumer, Trent Alexander-Arnold ein vorzüglicher Passgeber, Bellingham ein Allrounder und Foden ein Freigeist. Aber einen Taktgeber wie Weltfußballer Rodrigo in Spanien hat England nicht. Der bisher letzte dieser Güte war Paul Scholes – und das ist mittlerweile 20 Jahre her.

Tuchel muss auch gegen die Selbstzweifel der Engländer angehen

Die fehlende Spielkontrolle ist ein Grund dafür, warum England zuletzt in den finalen Turnierspielen immerzu knapp unterlegen war. Die Pleiten haben die ohnehin durch die lange Titellosigkeit ausgeprägten Selbstzweifel des Fußball-Mutterlandes verstärkt. Deshalb hofft Kane, dass Tuchel dem Team bei der ersten Zusammenkunft im März 2025 eine „echte Energiespritze“ verpassen könne. Bisher hat sich der 51-Jährige nicht zu seinen Überlegungen mit der englischen Nationalelf geäußert; ebenso verzichtete er darauf, sich ein Match im Stadion anzuschauen. Vielleicht möchte Thomas Tuchel erst mal erfahren, was ihm Lee Carsley zu berichten hat.

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