Englische Nationalmannschaft
Lee Carsley statt Jürgen Klopp
06. Sep 2024, 18:45 Uhr
Nach dem Rücktritt von Gareth Southgate bevorzugt Englands Verband eine interne Lösung und benennt den bisherigen U21-Trainer Lee Carsley zum Interimscoach. Der Boulevard stöhnt – doch damit hält sich die FA alle Optionen offen.
Die Übernahme des englischen Nationaltrainerpostens dürfte grundsätzlich für alle verfügbaren Trainer reizvoll sein – bis auf Jürgen Klopp vielleicht, der nach seinem Abschied vom FC Liverpool immer wieder vehement betont hat, in dieser Saison auf keinen Fall über eine Coachingtätigkeit nachzudenken. Die Nachfolge des nach der EM zurückgetretenen Gareth Southgate zählt zu den prestigeträchtigsten Positionen, die es im Fußball gibt. Den Engländern um Kapitän Harry Kane vom FC Bayern wird zugetraut, die WM 2026 gewinnen zu können. Und das Fußballmutterland ist Mitausrichter der EM 2028, die in Großbritannien und Irland stattfindet.
Die Aufmerksamkeit für den vakanten Job befeuerte Englands Football Association (FA) zusätzlich mit einer eigenen Stellenausschreibung. Darin hieß es, die FA sei an Uefa-Pro-Lizenz-Inhabern interessiert, die folgende Kriterien erfüllten: über stattliche Erfahrungen im englischen Fußball verfügen und eine Erfolgsbilanz aufweisen; außergewöhnliche Führungsqualitäten besitzen; und mit der massiven öffentlichen Beobachtung umgehen können.
Das Debüt von Lee Carsley ist doppelt speziell: Es geht gegen seine Mitheimat Irland
Eine Woche nach dem für Anfang August festgesetzten Bewerbungsende kam der Verband zu der Erkenntnis, den fürs Erste geeignetsten Kandidaten bereits unter Vertrag zu haben: den englischen U-21-Nationalcoach Lee Carsley. Der 50-Jährige wurde fortan zum Interimstrainer des A-Teams für die Nations-League-Partien gegen Irland und Finnland bestimmt – versehen mit der expliziten Aussicht, die Tätigkeit in den Herbstmonaten fortführen zu können, während sich die FA über die weitere Ausrichtung beratschlagt. Carsley, geboren im englischen Birmingham, kam als Mittelfeldspieler einst auf 282 Premier-League-Matches für Derby County, Blackburn Rovers und den FC Everton – und bestritt 40 Länderspiele für Irland, dem Land seiner mutterseitigen Großeltern. Das macht seinen Einstand im Duell mit den Iren in Dublin am Samstag für ihn doppelt speziell.
Nach seiner Spierlaufbahn lernte er das Trainerhandwerk im Nachwuchsfußball, unter anderem in der Akademie von Manchester City. Als Proficoach sprang Lee Carsley nur drei Mal sporadisch ein, bei Coventry, Brentford und Birmingham. Wegen seines eher unscheinbaren Profils stöhnte der Telegraph, Carsley sei nicht gerade der verführerischste Name. Vor der Entscheidung hatte der nach Schlagzeilen trachtende Boulevard über Anstellungen von diversen ausländischen Fachkräften sinniert. Doch der FA sind wohl die Engagements der bisher einzigen nicht britischen Nationaltrainer – Sven-Göran Eriksson und Fabio Capello – zu präsent. An deren wenig ergiebigen Amtszeiten hatte die Klatschpresse seinerzeit deutlich mehr Gefallen gefunden als der Verband.
Englands FA setzt den Southgate-Kurs fort
Die Wahl für Carsley setzt jetzt zunächst einmal den unter Southgate eingeschlagenen Kurs fort. Die FA hatte Southgate nach dessen dreijähriger Aufbauarbeit bei den U-21-Junioren im Herbst 2016 vorübergehend zum Cheftrainer der Männer befördert, bevor sie ihn nach guten Leistungen des Teams zum damaligen Jahresende zur Dauerlösung ernannte. Ebenso steht Carsley nun schon seit vier Jahren in Diensten des Verbands, coachte für eine Saison die U-20 und dann die U-21, die er 2023 sogar zum ersten EM-Titel seit 39 Jahren führte. Gleichzeitig gehörte er dem erweiterten Mitarbeiterstab Southgates an.
Durch die Zusammenarbeit kennt Carsley die Abläufe in der Profimannschaft und weiß, was dem Verband in der Kommunikation und im Auftreten wichtig ist. Diese Erfahrungen ließ Carsley in die erste Kadernominierung miteinfließen: Er ging nach dem Leistungsprinzip vor und förderte vor allem die jungen Spieler. So teilte er dem Vizekapitän Kyle Walker, 34, von Manchester City mit, diesmal auf ihn zu verzichten. Der Verteidiger sucht nach der für ihn kurzen Sommerpause noch seine Form, wurde erst einmal für ein paar Minuten im Klub eingewechselt. Fast unterwürfig fand Walker, dies sei die richtige Entscheidung gewesen – und übrigens sei Carsley am Telefon sehr nett rübergekommen. Die Aussage erinnerte an die Menschenführung Southgates, dem es trotz harten Personalentscheiden nahezu immer gelang, von den Spielern geschätzt zu werden.
Lee Carsley beruft vier Debütanten in die Nationalelf
Auch Manchester Uniteds Marcus Rashford und der soeben zum Saudi-Klub Al-Ahli gewechselte Ivan Toney blieben unberücksichtigt; die Stammspieler Jude Bellingham und Phil Foden fehlen zudem verletzt und krank. Dafür bestellte Carsley erstmals Noni Madueke (FC Chelsea), Angel Gomes (LOSC Lille), Morgan Gibbs-White (Nottingham Forest) und Tino Livramento (Newcastle United) ein, sie waren in den vergangenen Jahren alle schon Teil seines U-21-Kaders gewesen. Carsleys Junioren überzeugten mit attraktivem Fußball und Nervenstärke. Beides soll der Trainer ebenfalls bei den Männern forcieren, die seit dem WM-Heimsieg 1966 auf einen Titel warten.
Durch den Nations-League-Abstieg der Engländer in den B-Pool vor zwei Jahren erscheinen die anstehenden Matches geradezu prädestiniert zu sein, um sich ausführlich der Spielkultur des Teams zu widmen. Sie hatte manchmal unter dem eher pragmatischen Ansatz Southgates zu leiden – und war als ein Grund ausgemacht worden, dass diesem trotz dem Erreichen von zwei EM-Finals in Serie der ersehnte Turniersieg verwehrt blieb. An der Entwicklung der Spielweise wird sich wohl entscheiden, ob Lee Carsley über das Jahr hinaus das Amt bekleidet und die Engländer in die WM-Qualifikation führt. Grundvertrauen in ihn demonstrierte der Verband, indem ihm gestattet wurde, sein komplettes Trainerteam mitzunehmen, was einige Verschiebungen bei den Junioren zur Folge hatte.
Bleibt Lee Carsley dauerhaft – oder kommt doch eine externe Lösung?
Die FA hält sich durch das eigene unverbindliche Vorgehen bei der Nachfolgersuche für Southgate geschickt mehrere Varianten offen. Sollte sich abzeichnen, dass Lee Carsley die Erwartungen doch nicht erfüllt, könnte er jederzeit ohne Weiteres abgesetzt werden. In diesem Fall würde der Verband für das nächste Jahr dann vermutlich eine externe Personalie vorantreiben – und es eventuell auch bei Jürgen Klopp versuchen.