Granit Xhaka beim AFC Sunderland

Wie ein zweiter Trainer

31. Okt. 2025, 18:13 Uhr

"Ein Spieler wie kein anderer": Granit Xhaka setzt beim AFC Sunderland die Standards. (Foto: Paul Terry / Sportimage / Imago Images)

Granit Xhaka übertrifft beim AFC Sunderland sämtliche Erwartungen und steht für die Renaissance des Klubs, der überraschend auf dem vierten Platz steht. Der frühere Kapitän von Bayer Leverkusen erhält Lob von allen Seiten.

Von Sven Haist, London

Der Plan von Granit Xhaka ist bislang nicht aufgegangen. Der Schweizer Fussball-Rekordnationalspieler hatte seinen überraschenden Wechsel im Sommer für knapp 15 Millionen Franken vom Champions-League-Teilnehmer Bayer Leverkusen zum Premier-League-Aufsteiger Sunderland AFC auch damit begründet, dass er «Momente des Leidens, der Solidarisierung erleben» wolle.

Solche Erfahrungen lassen sich gemeinhin nur im Abstiegskampf machen, und in diesen war Xhaka bisher noch an keiner Station seiner Laufbahn involviert gewesen. Mit seinen bisherigen Klubs hatte der international renommierte Mittelfeldspieler stets deutlich höhere Ziele verfolgt. Im Hinblick auf die Trainerkarriere, die er irgendwann anstrebt, hält er es aber für unabdingbar, auch die andere Seite des Fussballs kennenzulernen. «Auch das gehört dazu, das wird mich prägen», erklärte er zu Saisonbeginn im «Blick».

Doch nach neun Spieltagen befindet sich Sunderland mit Xhaka nicht etwa in der unteren Tabellenhälfte – sondern völlig unerwartet auf dem zur Champions League berechtigenden vierten Platz. Nach dem in der Nachspielzeit sichergestellten Auswärtserfolg bei Chelsea am vergangenen Samstag war der Klub zwischendurch sogar auf den zweiten Platz vorgerückt.

Kyril Louis-Dreyfus, der Schweizer Besitzer des Vereins, postete auf Instagram die Tabelle. Es wirkte, als traute er seinen Augen kaum: Seine leidgeprüften «Black Cats», die in der Vergangenheit alles Pech der Fussballwelt anzuziehen schienen, stehen so gut da wie zuletzt im vorigen Jahrhundert.

Damit egalisierte die Mannschaft des französischen Trainers Régis Le Bris ihren eigenen Startrekord aus dem Jahr 1999 und ist mit 17 Punkten der sechstbeste Aufsteiger der Ligageschichte. Das «Sunderland Echo», sechs Jahre älter als der 1879 gegründete Klub, schrieb, es spielten sich «Szenen grenzenloser Euphorie» ab. Der Ausnahmezustand in Sunderland, der Stadt im rauen Nordosten Englands, erinnert an die Zeiten der sechs Meisterschaften, die überwiegend mehr als ein Jahrhundert zurückliegen. Nach dem Absturz in die dritte Liga vor sieben Jahren hatten viele Anhänger fast jede Hoffnung aufgegeben.

Jetzt erlebt der Klub eine fulminante Renaissance. Und kein Spieler steht für diese wie Granit Xhaka, der Captain des Schweizer Nationalteams. Er ist zurzeit der Mann der Stunde in der Premier League. Xhaka erhält Lob von allen Seiten: Trainer, Teamkollegen, Experten, Medien preisen seine Leistungen Woche für Woche. Auch gegen Chelsea war der 33-Jährige der prägende Akteur der Partie: «Eine Glanzleistung, ein anderes Niveau», befand der BBC-Experte Alan Shearer.

Alle Ligaspiele bestritt Xhaka über die volle Distanz, lieferte drei Torvorlagen und lief mehr als jeder andere Profi der Premier League – insgesamt über 100 Kilometer. Seine Aktionen auf dem Platz wirken so durchdacht, als habe er das jeweilige Spiel bereits einmal absolviert. Er überzeugt mit Umsicht, Ballsicherheit und Zweikampfstärke. In dieser Form könnte er weiterhin in jedem Topteam bestehen.

Xhakas Wert für eine der jüngsten Mannschaften Englands bemisst sich jedoch nicht nur in seiner fussballerischen Klasse, sondern ebenso an seiner Präsenz und Führungsstärke. Er sei «wie ein zweiter Trainer», sagt der Chefcoach Le Bris über seinen verlängerten Arm auf dem Spielfeld. Er ernannte den Routinier direkt nach dessen Verpflichtung zum Captain, weil dieser «jeden Tag die Standards setzt».

Die prominente Rolle scheint Xhaka zu beflügeln. Zwar gehörte er stets zu den Wortführern seiner Teams, doch so unumstritten wie in Sunderland war er noch nie. Das dürfte auch daran liegen, dass der wegen seines impulsiven Temperaments häufig kontrovers gesehene Xhaka in den ersten Wochen im Nordosten der Insel ausgesprochen besonnen agiert – als würde er als Vaterfigur der Mannschaft eine besondere Verantwortung spüren.

Da er seine Erfahrung konstruktiv weitergibt, hat er sich den Respekt seiner Mitspieler rasch erworben. Xhaka sei «mehr als nur ein Spieler», schwärmt der von der AS Roma gekommene Offensivmann Enzo Le Fée, 25: Er kümmere sich um alles und habe der Mannschaft seinen Charakter aufgeprägt. Ähnlich äussert sich Reinildo Mandava, 31, Neuzugang von Atlético Madrid. Es sei ein «Traum», mit Xhaka auf dem Platz zu stehen, sagt er – dieser sehe das Spiel mit anderen Augen, weshalb jeder von seinen taktischen Hinweisen profitiere.

Dazu kommt Xhakas ausgeprägte Siegermentalität, die der Stürmer Wilson Isidor hervorhebt: «Wenn die Qualität der Trainingseinheit nicht stimmt, wird er laut.» Als Beispiel nennt er den talentierten Teenager Chris Rigg, den Xhaka «wieder auf Linie gebracht» habe. Als Rigg im Training nachlässig wurde, forderte der Captain eine andere Einstellung – mit Wirkung, wie Isidor berichtet.

All das macht Xhaka zum wohl wertvollsten Transfer des Klubs in diesem Sommer. Insgesamt kamen fünfzehn neue Spieler für fast 200 Millionen Franken Ablöse, um das Kader auf die Anforderungen der Premier League vorzubereiten. Für den 33-jährigen Xhaka machte das Management trotz der auf junge Talente ausgerichteten Transferstrategie eine Ausnahme.

Der Sportdirektor Florent Ghisolfi, sein Kollege Kristjaan Speakman und der Trainer Le Bris, denen Louis-Dreyfus freie Hand lässt, erkannten, dass es erfahrene Stabilisatoren braucht, die bereits in der Premier League reüssiert haben. «Granit hat einen noch grösseren Einfluss, als wir ehrlich gesagt erwartet hatten», betont Le Bris. Seine Autorität speist sich aus seinem unaufgeregten Auftreten – auch deshalb harmoniert die Zusammenarbeit mit dem dominanten Xhaka so gut.

Der starke Saisonstart verschafft dem Sunderland AFC ein beruhigendes Polster auf die Abstiegsränge. Der Klassenerhalt bleibt dennoch das Ziel. Granit Xhaka sagt, er mache in Sunderland «Erfahrungen fürs Leben – diesen Entscheid werde ich nie bereuen». Ganz gleich, wie die Saison am Ende ausgeht.

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