Torflut des FC Arsenal

Die Kanoniere treffen wieder

05. Mrz 2024, 20:19 Uhr

Teamarbeit: Schon neun Arsenal-Spieler haben mindestens vier Tore in der Premier League erzielt - darunter auch Kai Havertz. (Foto: MB Media Solutions / Imago)
Teamarbeit: Schon neun Arsenal-Spieler haben mindestens vier Tore in der Premier League erzielt - darunter auch Kai Havertz. (Foto: MB Media Solutions / Imago)

Der FC Arsenal schießt sich mit 31 Toren in sieben Spielen zurück ins Titelrennen der Premier League. Beim 6:0 gegen Sheffield gelingt Kai Havertz sogar der 150 000. Treffer der Liga-Geschichte. Doch die größte Stärke des Teams ist die Abwehr.

Von Sven Haist, London

Zu den ungeschriebenen Gesetzen des Fußballexpertentums in England scheint es zu gehören, ebenso hart einzustecken wie auszuteilen – und auch über sich selbst lachen zu können. Ein Beispiel lieferte Sky-Kommentator Jamie Carragher am Montagabend, als er sich in das Interview mit Martin Ödegaard einschaltete, dem Kapitän des FC Arsenal. Kürzlich hatte sich Carragher über Ödegaard echauffiert, als dieser nach dem Erfolg im Spitzenspiel gegen den FC Liverpool einem Klubfotografen die Kamera auf dem Platz aus der Hand genommen und ihn vor der Anhängerschaft für ein Erinnerungsbild fotografiert hatte. Der frühere Liverpool-Verteidiger Carragher urteilte, Ödegaard solle gefälligst “in den Kabinentunnel” gehen. Die Kritik konterte Ödegaard, indem er zum einen versicherte, das Team werde trotz des Erfolgs “bescheiden” bleiben. Und zum anderen, indem er fragte, wann man sich denn sonst noch freuen dürfe, wenn nicht nach einem gewonnenen Spiel.

Schon nach 15 Minuten stand es 3:0 für Arsenal

Nun griff Carragher die Episode auf, als er Ödegaard nach Arsenals 6:0 beim Tabellenletzten Sheffield United damit konfrontierte, dass er den Fotografen diesmal gar nicht auf dem Spielfeld gesehen habe. “Ist er in der Umkleidekabine, werdet ihr euch treffen?”, fragte Carragher spitz. Ödegaard lachte herzhaft und entgegnete, er habe schon die ganze Zeit auf einen solchen Einwand gewartet. Er habe allerdings “zu viel Angst” gehabt, die Aktion zu wiederholen. Deshalb sei er sofort hineingegangen. Gelächter im Studio – und die englischen Medien hatten auch ihre Freude: Sie schilderten das Amüsement bisweilen ausführlicher als das Spiel selbst.

atsächlich war der hohe Sieg schnell erklärt. Arsenal hatte über 80 Prozent Ballbesitz, Sheffield brachte keinen Schuss aufs gegnerische Tor zustande. Schon nach einer Viertelstunde stand es 3:0 für die Londoner durch Treffer von Ödegaard, Sheffield-Verteidiger Jayden Bogle per Eigentor und Gabriel Martinelli. Bis zur Halbzeit legten Kai Havertz – dem das 150 000. Tor in der englischen Erstligageschichte gelang – und Declan Rice nach, später markierte Ben White den Endstand. Zum vierten Mal in Serie kassierte der Aufsteiger zu Hause in einem Pflichtspiel mindestens fünf Gegentore, zuvor gegen Aston Villa und zweimal gegen Brighton in der Liga und im Pokal.

2024 gewann Arsenal alle sieben Ligaspiele

Die Bilanz von Arsenal liest sich geradezu spiegelverkehrt: In den vergangenen drei Auswärtsspielen in der Liga trafen sie sechs-, fünf- und jetzt wieder sechs Mal. Seit der zweiwöchigen Spielpause im Januar, als die Mannschaft von Mikel Arteta ins Trainingslager nach Dubai flog, kommt der Klub auf 31 Tore in sieben Premier-League-Matches. Die Boulevardzeitung Sun kommentierte belustigt, die Gunners, die Kanoniere, seien derzeit “vollständig geladen”. Zuvor wirkte es bei einigen sieglosen Spielen, als hätte das Geschütz geklemmt. Sobald ein Spieler im Team nun trifft, treffen bisweilen auch die anderen. Neun Arsenal-Profis haben in der Liga schon mindestens vier Tore erzielt – darunter Havertz mit sieben; ihm gelangen zuletzt drei in drei Spielen hintereinander.

Zum Vergleich kommen bei den Titelkonkurrenten Liverpool und Manchester City, die insgesamt ähnlich oft getroffen haben, jeweils nur fünf Profis auf eine solche Ausbeute. Dadurch hat das drittplatzierte Arsenal, das zwei Zähler hinter Liverpool und einen Punkt hinter City liegt, mittlerweile das deutlich beste Torverhältnis. Wenn sich beide im direkten Duell am kommenden Sonntag die Punkte teilen, könnte Arsenal mit einem eigenen Sieg gegen den FC Brentford die Tabellenführung übernehmen.

Die Kehrseite des Erfolgs: Arsenal hat keinen verlässlichen Torschützen

Derlei Gedanken weist Arteta von sich. Ihm gehe es vordergründig darum, “das Momentum aufrechtzuerhalten”, sagte er. Denn einen wirklich verlässlichen Torschützen besitzt seine Elf nach wie vor nicht. Das stellte erst kürzlich die Hinspielniederlage im Achtelfinale der Champions League gegen den FC Porto unter Beweis: 0:1, die fünfte von acht Saisonpleiten ohne Tor. Auch hier gilt, diesmal andersherum: Wenn es vorn hakt, trifft meist gar keiner. Arsenals Tore scheinen immer eine Teamleistung zu sein, bei fünf der sechs Treffer in Sheffield waren mindestens fünf eigene Spieler im gegnerischen Strafraum zugegen. Der Erfolg hängt also davon ab, wie gut die Spieler nachrücken – und von den Standards, die der Klub besonders nutzt.

Bei der Diskussion um die Torgefährlichkeit der Gunners wird bisweilen übersehen, dass die vielversprechende Ausgangslage für die Schlussphase der Saison mitunter auf der Abwehrleistung basiert. Arsenal stellt die beste Defensive der Premier League, kassierte nur sechs Gegentore in neun Pflichtspielen in diesem Jahr. Carragher findet, dass die Abwehr um den Franzosen William Saliba und den Brasilianer Gabriel Magalhães derzeit die wohl beste in Europa sei. Die dominante, zugleich kompakte und deswegen für andere Topmannschaften unangenehme Spielweise könnte Arsenal zu einem Titelanwärter machen. Vielleicht sogar mehr in der Champions League als in der Premier League, wo die vermeintlich schwersten Spiele noch ausstehen.

Nach dem Ödegaard-Interview witzelte Carragher gütlich, dass jetzt „alles ausgeräumt“ sei. Sollte Arsenal tatsächlich einen der beiden Titel in dieser Saison gewinnen, wäre ohnhin wohl jeder Form des Jubels gestattet.

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