Boulevard in England

Mutterland der Fußballprolls

03. Sep 2024, 21:14 Uhr

Standen zuletzt nicht nur mit ihren Leistungen, sondern auch wegen ihres Privatlebens im Fokus: Jack Grealish (links) und Kyle Walker (rechts) auf der Siegesfeier von Manchester City 2023.  (Foto: Mark Cosgrove / Imago)
Standen zuletzt nicht nur mit ihren Leistungen, sondern auch wegen ihres Privatlebens im Fokus: Jack Grealish (links) und Kyle Walker (rechts) auf der Siegesfeier von Manchester City 2023. (Foto: Mark Cosgrove / Imago)

Fußballprolls finden sich überall, aber in England kommen sie besonders häufig vor – aus mehreren Gründen. In diesem Jahr lieferte Walker den größten Skandal, weil seine Frau und seine Geliebte gleichzeitig von ihm schwanger waren.

Von Sven Haist, London

Fast wäre Kyle Walker im Juli 2023 zum FC Bayern gewechselt. Der Kapitän von Manchester City wollte seinen Klub zwar nicht verlassen, sei sich aber bewusst gewesen, dass die Uhr für ihn ticke, sagte er zu Jahresbeginn. Einen Transfer sah der 34-Jährige als einzige Chance an, um der bevorstehenden Kritik an ihm in den englischen Medien zu entfliehen. Denn zu dieser Zeit wusste Walker bereits, dass die Influencerin Lauryn Goodman zum zweiten Mal von ihm schwanger war – obwohl er eigentlich in einer Beziehung mit seiner langjährigen Partnerin Annie Kilner steckte, die gleichzeitig auch von ihm schwanger war und das vierte gemeinsame Kind erwartete. Kilner hatte Walker dessen erste Affäre mit Goodman – und ein erstes Kind – einst nachgesehen und ihn dann im November 2021 geheiratet. Nun fürchtete der englische Nationalspieler ein endgültiges Beben, wenn sein neuerlicher Seitensprung an die Öffentlichkeit gelangen würde.

Kyle Walker entschuldigte sich in einem tränenreichen Interview für sein wildes Privatleben.

Tatsächlich war dies an Weihnachten 2023 der Fall, als Goodman Kilner mitteilte, Kyle Walker sei erneut Vater ihres Kindes. Seitdem beschäftigen Walkers Eskapaden die Klatschzeitungen auf der Insel wie sonst nur die britischen Royals. Lange Zeit verging keine Woche ohne neue Details zu der komplizierten Dreieckskonstellation, vor allem Goodman plauderte bereitwillig Infos aus. Walkers Privatleben wurde so zu einer der spektakulärsten Boulevard-Stories des Jahres in Grossbritannien.

George Best lieferte die Definition eines Fußballprolls

Die Angelegenheit erinnert immer mehr an andere frühere berühmte Fussballgrössen des Landes, die mit ihrem kontroversen Lebensstil gleichermassen in die Schlagzeilen gerieten. Die bekanntesten britischen Profis dieser Art sind sicherlich George Best, Paul Gascoigne und Wayne Rooney. Alle sind berüchtigt für ihr ausschweifendes Leben. Der Nordire Best war vermutlich einer der ersten richtigen Boulevardpromis des Fussballs überhaupt, er erregte genauso viel Aufmerksamkeit mit seinen Kapriolen wie mit seinen Leistungen für Manchester United in den 60er und 70er Jahren. «Ich habe viel Geld für Alkohol, Frauen und schnelle Autos ausgegeben – den Rest habe ich einfach verprasst», fasste er einmal seine Lebensführung zusammen. Im Rückblick wirkt der Satz wie die Definition eines prolligen Profifussballers. Die finden sich überall, aber England scheint sie besonders häufig und regelmässig hervorzubringen – aus mehreren Gründen.

Im Vergleich zu anderen Ländern ist die englische Liga immer schon stark durchkapitalisiert gewesen, spätestens mit der Gründung der Premier League 1992 setzen die Inselklubs in der Regel deutlich am meisten Geld um. Die Spitzenspieler der Liga verdienen pro Saison mittlerweile zweistellige Millionenbeträge, das Nettovermögen von Kyle Walker wird zum Beispiel auf 27 Millionen Pfund (30 Millionen Franken) geschätzt. Der Reichtum ermöglicht nicht nur ein sorgenfreies, sondern auch ein sorgloses Leben; Fehler lassen sich bisweilen finanziell kompensieren. Dies dürfte dem sozialen Verständnis und dem Umgang mit anderen Menschen nicht unbedingt zuträglich sein.

Alkoholkonsum in Großbritannien besonders ausgeprägt

Der Leistungsdruck erzeugt eine Fallhöhe, der nicht jeder junge Fussballer gewachsen ist. Bei ausbleibenden Erfolgen kann die Erwartungshaltung in der Premier League zu mentalen Problemen führen. Trotz, oder vielleicht auch gerade wegen, der Rundumversorgung der Klubs fällt es einigen Spielern manchmal schwer, sich in einem neuen Umfeld zurechtzufinden. Die Bekanntheit erschwert es, substanzielle Freundschaften und Vertrauen aufzubauen.

Dazu kommt die historisch ausgeprägte Trinkkultur des Landes, in die die Spieler hineinwachsen. Eine Studie der Weltgesundheitsorganisation zeigte kürzlich, dass der Alkoholkonsum in Grossbritannien zu den höchsten in der Welt gehört. Jeder zweite 13-Jährige hat demnach schon Alkohol getrunken, jeder zehnte von ihnen war mindestens zweimal betrunken. Speziell in der Fussball-Berichterstattung kann der Eindruck entstehen, dass es diesen nur mit Alkohol gebe. Das Ausmass spiegeln internationale Turniere wider, bei denen englische Fans exzessiv dem Alkohol frönen – und ihn auch verklären. Über den Abwehrrecken Harry Maguire singen sie: «Er trinkt Vodka / er trinkt Jäger / er hat einen Riesenschädel.»

Boulevardpresse spitzt Fehltritte zu

Die wenig zimperliche britische Yellow Press spielt im Privatleben der Fussballer ebenfalls eine beachtliche Rolle. Mehrere Boulevardzeitungen konkurrieren miteinander und schrecken kaum vor einer Geschichte zurück. Es sieht stets so aus, als würden sie Fehltritte sogar noch zuspitzen. Englands inzwischen zurückgetretener Nationaltrainer Gareth Southgate sagte im Interview mit der «NZZ» vor der EM, dass es für den bei Real Madrid angestellten Jude Bellingham, 21, «eine positive Sache» sei, ausserhalb Englands aufgewachsen zu sein – weil die Fussball-Öffentlichkeit hierzulande herausfordernd sein könne. Das Verhältnis zwischen Fussballern und Medien schien einst der lange Zeit in England spielende Spitzenkönner Eric Cantona treffend wiederzugeben. Der Franzose philosophierte nach seinen Skandaltritt gegen einen Stadionzuschauer in einem Gerichtsverfahren vor sich hin, dass Möwen stets Hochseefischern und ihren Schiffen folgen würden, da sie annehmen, dass Sardinen ins Meer geschmissen werden. In diesem Fall dürfte Cantona die Presse als Möwen, sich selbst als Fischer und seine abenteuerlichen Lebensgeschichten als Sardinen betrachtet haben.

„He drinks Vodka, he drinks Jäger“: Englische Fußballfans besingen Harry Maguire.

Das Gebaren der englischen Topfussballer hat sich über die vergangenen Generationen hinweg zunehmend verbessert. Southgate stellte zu Recht fest, dass die aktuellen Nationalspieler sicher nicht perfekt, aber ebenfalls keine Primadonnen seien. Trotzdem sind die sich ordinär benehmenden Fussballer keinesfalls ausgestorben. Das beweist die Respektlosigkeit von Kyle Walker gegenüber seiner Frau, zumal er nicht zum ersten Mal unangenehm auffiel: Auf Videos ist zu sehen, wie er mutmasslich angetrunken vor anderthalb Jahren in einem Pub vor anderen Leuten seine Trainingshose fallen lässt.

Auch Walkers Teamkollegen fielen mit prolligem Benehmen auf

Auch Walkers Teamkollegen Jack Grealish und Phil Foden bei Manchester City und dem englischen Nationalteam leisten sich immer wieder prollig anmutende Aussetzer. Nach dem Champions-League-Triumoh 2023 verhielt sich Grealish tagelang wie im Dauerrausch. Auf der Siegesparty stammelte er ins Mikrofon, er sei ein Truthahn und müsse gefüttert werden. Daraufhin liessen ihm Mitspieler einen Guss Wodka aus der Flasche in den Mund laufen. Kürzlich beklagten sich Fodens Anwohner über dessen anhaltende Lärmbelästigungen in der Nacht. Es wurde berichtet, dass sogar die Polizei vorstellig geworden wäre und Nachbarn angeblich ihr Leben als «Hölle» empfänden, seitdem Foden mit der Familie eingezogen ist.

Die Entgleisungen wirken jeweils wie ein Ausbruchsversuch aus dem starren Fussballsystem, in dem sich die Spieler Saison für Saison befinden. Der Spielkalender fordert stets Disziplin und Makellosigkeit ein. Durch die eigene Bekanntheit stehen sie fast pausenlos unter Beobachtung. Meist wird nur in aufsehenerregend positiven und negativen Momenten über sie berichtet. Dies kann auch dazu führen, dass ein Bild entsteht, das der wahren Persönlichkeit der Spieler nicht entspricht.

Kyle Walker lieferte ein tränenreiches Schuldgeständnis

Nach dem Bekanntwerden seiner Affären lieferte Kyle Walker ein tränenreiches Schuldgeständnis in der «Sun» ab. Er entschuldigte sich bei seiner Frau Annie und gab zu, dumme Entscheidungen getroffen zu haben und dafür Verantwortung zu übernehmen. Im Streit mit Goodman um die Höhe der Unterhaltsforderungen hielt das Gericht fest, Kyle Walker sei «sensibel, ehrlich und zuverlässig» und habe nach seinen Verfehlungen mit «Würde und Grosszügigkeit» gehandelt. Warum er letztlich doch nicht das Angebot des FC Bayern angenommen habe? In München wäre er gänzlich auf sich allein gestellt gewesen, fand Walker. So könnte er jetzt immerhin seine Kinder sehen. Ob ihm seine Partnerin ein zweites Mal verzeiht, ist noch unklar.

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