Arsène Wenger im Portrait

Professor mit avantgardistischen Ideen

22. Okt. 2024, 09:55 Uhr

Trainer einer Arsenal-Generation: Arsène Wenger. (Foto: Nick Potts / Imago Images)
Trainer einer Arsenal-Generation: Arsène Wenger. (Foto: Nick Potts / Imago Images)

Arsène Wenger wird 75 Jahre alt. Er hat den FC Arsenal als Trainer eine halbe Ewigkeit geprägt, obwohl ihm zu Beginn niemand etwas zutraute. Wengers früherer Torwart Jens Lehmann würdigt den intellektuellen Elsässer – und verrät eine Eigenschaft, die noch nicht über ihn bekannt ist.

Von Sven Haist, London

Seit seinem Abschied vom FC Arsenal hält sich Arsène Wenger dem englischen Fussball fern. Er ist in den Stadien der Premier League fast nicht mehr anzutreffen, und auch zum Geschehen in der Liga äussert er sich nur sporadisch. Wengers Zurückhaltung ist kein Ausdruck von mangelndem Interesse, nachdem er Arsenal für die halbe Ewigkeit von Oktober 1996 bis Juni 2018 trainiert hatte. Sondern ein Zeichen des Respekts gegenüber seinen Nachfolgern. Seine Präsenz könnte ein Problem für den Klub darstellen, erklärte Wenger bei der Buchpräsentation seines Klubweggefährten David Dein vor zwei Jahren. Aus diesem Grund halte er sich zurück, er möchte Arsenal die Chance geben, eine neue Ära einzuläuten.

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Für Wenger gäbe es momentan auch keinen Grund, sich einzumischen. Sein Lebenswerk wird fortgeführt, wie er sich das wohl während seiner Trainerlaufbahn immer erhofft hat. Von ihm geprägte Spieler sind in seine Fussstapfen getreten: Mikel Arteta ist Trainer, Edu Sportchef und Per Mertesacker Nachwuchschef. Auch in dieser Saison spielt Arsenal um die Meisterschaft. Womöglich ist dies das schönste Geschenk für ihn, Wenger feiert an diesem Dienstag seinen 75. Geburtstag. Der Elsässer hat sein gesamtes Leben dem Verein unterstellt. «Wenn man Erfolg haben will, muss man sich voll engagieren», betonte er bei «The Athletic».

Mich hat seine Vision beeindruckt, sagte Jens Lehmann über Wenger

Der Rekordtrainer der Premier League coachte den Klub in 1228 Pflichtspielen zu 704 Siegen, darunter zu unerreichten sieben Triumphen im FA-Cup. Der letzte seiner drei englischen Ligatitel gewann Wenger in der Saison 2003/04 auf die ultimative Weise: ohne eine Niederlage. «Mich hat seine Vision beeindruckt, weil er zu den wenigen Trainern gehört, die eine klare Vorstellung vom Offensivspiel haben», erzählt Jens Lehmann der «NZZ». Lehmann war der Torwart von Wengers unbesiegter Meisterelf, den «Invincibles», und arbeitete später als dessen Assistent. Arsène habe den Spielern Freiheiten gegeben, weil er davon überzeugt gewesen sei, sie würden immer die beste Lösung finden. Dieser Spielstil, der auf schnellen Ballzirkulationen basierte, ging als «One-Touch-Football» in die Geschichte ein.

Bei seiner Ankunft auf der Insel traute Arsène Wenger kaum jemand zu, das damals verträumte Arsenal mit avantgardistischen Ideen zu revolutionieren, dazu zählten die Ernährung und Regeneration der Spieler. Der «Evening Standard» begrüsste ihn mit der Schlagzeile: «Arsène Who?» – weil Wenger der erste französische Trainer in England war und zuvor nur Klubs in seiner Heimat und Japan betreut hatte. Keiner kannte ihn so wirklich, ausser Arsenals stellvertretender Vorsitzende Dein. Der hatte sich mit ihm bereits 1989 bei einem Arsenal-Spiel zufällig in der Cocktail-Lounge bekannt gemacht und ihn dann zum Abendessen bei Freunden eingeladen. In seinem Buch hält Dein fest, Arsène Wenger habe in keiner Weise wie ein klassischer Fussballtrainer gewirkt, sondern sei «weltgewandt» gewesen.

Wenger gehört zu den wirtschaftlich erfolgreichsten Trainern

«Ein grosser, schlanker Franzose schreitet auf das Podium, und wir merken sofort, dass der ein komplett anderes Tier ist», schrieb der Reporter Myles Palmer in seiner Hommage «Der Professor» über Wengers Vorstellung bei Arsenal. Wegen seines intellektuellen Auftretens verpasste ihm die englische Presse diesen Spitznamen. Auch Lehmann kommt auf Wengers Intellekt zu sprechen. Selbst nach langer Zusammenarbeit sage dieser stets noch immer etwas, worüber man nachdenke. Unvergessen ist zum Beispiel Wengers korrekte Prophezeiung von 2005, als er ein Ungleichgewicht zwischen den Klubs durch den seinerzeit gerade erst beginnenden Einfluss von Investoren heraufziehen sah. Er kritisierte die Geldspritzen als «Finanzdoping».

Ein solcher Wettbewerbsvorteil widersprach Wengers Haltung, die von dem Bistro seiner Eltern geprägt war. Seine Kindheit sei eine «Erziehung zum Einfallsreichtum, zur Hartnäckigkeit, zur Leidenschaft, zum Körpereinsatz» gewesen, vermerkte er in seiner Autobiographie «My Life and Lessons in Red & White». Genau auf diese Art führte er später Arsenal. Wenn man seine Transferbilanz betrachte und berücksichtige, dass der Klub unter ihm auch ein neues Stadion mit eigenen Mitteln gebaut habe, sei Wenger der «wirtschaftlich erfolgreichste Manager» in den vergangen Jahrzehnten, findet Lehmann.

Auch eine gesunde Aggressivität gehört zu Arsène Wenger

Zur Persönlichkeit des Gentleman gehört auch eine Eigenschaft, die noch nicht allgemein bekannt ist. Laut Lehmann verfüge Arsène Wenger über eine gesunde sportliche Aggressivität. Der frühere DFB-Nationalkeeper erinnert sich dabei an ein Arsenal-Auswärtsspiel beim Erzrivalen Manchester United, als in der Nacht zuvor ein Feueralarm im Hotel losbrach. Vor dem Eingang sei Wenger dann von einem betrunkenen United-Fan stark bepöbelt worden. Diesmal habe sich der öffentlich immerzu kontrolliert auftretende Trainer mal nicht zurückhalten können. «Er packte den Fan», berichtet Lehmann, Betreuer mussten dazwischen gehen. Ohne diese Mentalität könne man letztlich keinen Erfolg haben, ist sich Lehmann sicher.

In seinen letzten Trainerjahren bei Arsenal kamen Wengers Qualitäten nur noch bedingt zum Ausdruck. Die Spielergeneration hatte sich verändert, es wirkte, als nutze sie die auf Eigenverantwortung setzende Teamführung des Trainers aus. Der Klub rutschte ab und Wenger trat ab. Egal, was man für ein Leben führe, man müsse den Sinn darin finden: Das habe er getan, denn Fussball sei sein Sinn des Lebens, fasste Wenger sein Wirken zusammen. Inzwischen ist er als Fifa-Direktor für die globale Fussballförderung zuständig. Er reist überall auf der Welt herum – aber wer Arsène Wenger in England sehen möchte, der muss zum Stadion des FC Arsenal kommen. Dort steht vor den Eingangstoren inzwischen eine Statue von ihm.

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