Liga gegen Man City
Anklage in 115 Punkten
16. Sep 2024, 13:11 Uhr
Anderthalb Jahre nach der Anklage hat das Verfahren zwischen Premier League und Man City begonnen – wegen Finanztrickserei und mangelnder Kooperation. Es ist ein Jahrhundertprozess, bei dem es auch um die Zukunft des Fußballs geht.
Die Eröffnung des Verfahrens zwischen der Premier League und Manchester City zog sich zuletzt so sehr in die Länge, dass der Eindruck entstehen konnte, es würde gar nicht mehr beginnen. Bei jeder Gelegenheit wurde Richard Masters, der Geschäftsführer der Liga, nach dem aktuellen Stand gefragt. Masters antwortete ausweichend, erst bei der Ligaeröffnung im August drückte er sich etwas präziser aus. Es sei «jetzt an der Zeit», dass der Fall gelöst werde, fand auch er. Durch die unverbindlichen Aussagen vergrösserten sich die Spekulationen im englischen Fussball. An diesem Montag gehen die Anhörungen vor einer unabhängigen Kommission nun tatsächlich los, sie finden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, nicht einmal der Ort ist bekannt. In England wird der Rechtsstreit als Jahrhundertprozess im Fussball angesehen. Es sei schwer, dessen Ernst und Ausmass zu überschätzen, schrieb die BBC. Es geht im Prinzip um die Glaubwürdigkeit des Klubs als auch die Autorität der Liga.
Die Premier League, die als Dachverband den englischen Elitespielbetrieb regelt, hat im Februar 2023 – nach zähen vierjährigen Ermittlungen der eigenen Rechtsabteilung sowie der beauftragten Kanzlei Bird & Bird – den Manchester City Football Club angeklagt. Die Vorwürfe: gravierende Finanztricksereien und unzureichende Kooperation in 115 (!) Fällen. Diese unterteilen sich in fünf Kategorien: 50 Verstösse gegen die Bereitstellung korrekter Informationen über die Finanzlage des Klubs (2009-2018); 24 Verstösse gegen die detaillierte Offenlegung von Spieler- und Trainergehältern (2009-2016); fünf Verstösse gegen die Einhaltung der Financial-Fairplay-Regularien der Uefa, zu denen jedes Mitglied der Premier League verpflichtet ist (2013-2018); sechs Verstösse gegen die Rentabilitäts- und Nachhaltigkeitsregeln der Premier League (2015-2018); sowie 30 Verstöße gegen die verbindlich festgeschriebene Unterstützung der Ermittlungen, inklusive Bereitstellung von Dokumenten und Informationen nach bestem Wissen und Gewissen (2018-2023).
Seit der Übernahme durch Mansour hat der Klub allein rund 2,75 Milliarden in neue Spieler investiert
Der Zeitraum der Anschuldigungen beläuft sich auf alle Fussballsaisons von 2009 bis 2023, also fast der kompletten Epoche des Vereins unter dem Hauptanteilseigner Scheich Mansour bin Zayed Al Nahyan, 53, Mitglied der Herrscherfamilie des Emirats Abu Dhabi und Bruder des Staatsoberhauptes der Vereinigten Arabischen Emirate. Mansour hatte Manchester City im September 2008 für eine Viertelmilliarde Euro gekauft und wurde damit der erste Grossfinanzier eines Premier-League-Klubs von der Arabischen Halbinsel. Nach seinem Einstieg flossen schwindelerregende Summen – wohl auch mit dem Ziel, das Ansehen des repressiven Regimes durch Erfolge im Fussball zu erhöhen, was Kritiker als «Sportswashing» brandmarken. City gab unter Mansour geschätzte 2,75 Milliarden Euro für neue Spieler aus und verbuchte ein Transferminus von rund 1,5 Milliarden Euro. Kaum ein anderer Klub steckte in den vergangenen 16 Jahren mehr Geld in die eigene Profimannschaft.
Mansours Investitionen haben sich sportlich ausgezahlt: Manchester City gewann zuletzt vier Meisterschaften in Serie unter Trainer Josep Guardiola und 2023 erstmals in der Vereinshistorie die Champions League. Damit hat der Klub quasi alles gewonnen – und könnte nun dennoch gewissermassen bald alles wieder verlieren. Denn bei einer Verurteilung in der aktuellen Causa mit der Premier League drohen City drastische Strafen, sie reichen von Punktabzügen, die zum Abstieg führen können, bis hin zum Ligaausschluss. Citys früherer Finanzberater Stefan Borson meinte nach Bekanntwerden der Anschuldigungen im Radiosender Talksport, deren schieres Ausmaß müsste, sofern sie bewiesen würden, «mindestens zum Abstieg» des Vereins führen.
Das Verfahren der Premier League baut auf einem früheren der Uefa auf
Das Verfahren der Premier League scheint auf den einst von der Uefa erhobenen Anklagepunkten gegen City aufzubauen. Europas Fussball-Union beanstandete 2019, dass Manchester City zur Untergrabung des Regelwerks «Financial Fairplay (FFP)», das vereinfacht gesagt nur begrenzte Verluste der Klubs und Zuschüsse der Besitzer gestattet, zwischen 2012 und 2016 falsche Einkommensangaben gemacht haben soll. Angeblich wurden Zahlungen von Mansour als künstlich hochgerechnete Sponsorenerlöse getarnt. Ein Jahr später wurde City von einer unabhängigen Finanzkommission der Uefa für zwei Jahre aus allen Europapokalwettbewerben ausgeschlossen. Das Erdrutschurteil kassierte der Internationale Sportgerichtshof Cas allerdings unter fragwürdigen Umständen kurz danach weitgehend wieder ein – mit dem Verweis auf Verjährung und eine nicht ausreichende Beweislage.
Im Gegensatz zu den Uefa-Regeln kennt die Premier League keine Verjährung. Als Indizien dürften, damals wie heute, vor allem mutmasslich gehackte Dateien der Enthüllungsplattform Football Leaks dienen, hinter denen der Portugiese Rui Pinto steckt. Seit 2016 hat Pinto dem «Spiegel» mehr als 70 Millionen Dateien europäischer Topklubs zugespielt, die das Magazin mit dem Recherchenetzwerk European Investigative Collaborations auswertete. Manche davon sind im Internet frei zugänglich. Die auf Pintos Enthüllungen basierenden Artikel legten nahe, wie Manchester City die Wettbewerbsregeln der nationalen und internationalen Verbände wahrscheinlich zu umgehen versuchte.
Manchester City bestreitet alle Vorwürfe und kündigt „unwiderlegbare Beweise“ an
Manchester City bestreitet jegliches Fehlverhalten und bezeichnete die Vorwürfe von Beginn an als «organisierten und eindeutigen» Versuch der Rufschädigung. Grundsätzlich äussert sich City nicht zu den Football-Leaks-Unterlagen und sieht sie als gestohlen, illegal gehackt und aus dem Kontext gerissen an. Zudem hält der Verein die Finanzregeln – nicht ganz zu Unrecht – für eine Massnahme des Fussball-Establishments, um neureiche, ambitionierte Klubs kleinzuhalten. In der Rechtssache gibt sich City immerzu siegessicher. Als die Premier League ihre Anklage veröffentlichte, reagierte der Klub mit einem knappen Statement. Man sei «überrascht», begrüsse aber die unabhängige Überprüfung, um den Fall «ein für alle Mal» zu beenden. Zur Unterstützung der eigenen Position kündigte der Verein «umfangreiche unwiderlegbare Beweise» an.
Vor Citys Ligaspiel am Samstag gegen den FC Brentford (2:1) betonte Guardiola, jeder sei bis zu einer Verurteilung unschuldig. Aus seiner Sicht wollten alle Klubs der Premier League, dass City sanktioniert werde. Eine BTL-Anfrage zu den Vorwürfen und dem zeitlichen Ablauf des Verfahrens liess Manchester City unbeantwortet; die Premier League teilte mit, sich über die bisher getätigten öffentlichen Erklärungen hinaus nicht weiter äussern zu können.
Die Anhörungen sind dem Vernehmen nach für zehn Wochen angesetzt, ein Urteil der unabhängigen Kommission wird zu Beginn des nächsten Jahres erwartet. Allerdings können beide Seiten, die Premier League und Manchester City, in Berufung gehen, dann würde eine neu besetzte Kommission den Fall bewerten. Bis das Verfahren abgeschlossen ist, könnte es also erneut dauern.