Stefan Ortega bei Manchester City
Wellenbrecher im Tsunami
11. Mrz 2024, 17:26 Uhr
Der immer noch unterschätzte Ersatztorwart Stefan Ortega sichert Manchester City mit tollen Paraden ein Remis im Spitzenspiel beim FC Liverpool – und bietet sich damit als DFB-Ersatzmann für Manuel Neuer an. Sein Spielverständnis und seine Fertigkeiten am Ball sind beinahe unübertroffen.
Vermutlich hätte es für Manchester City im Premier-League-Spitzenduell beim FC Liverpool kaum einen ungünstigeren Zeitpunkt für einen Torwartwechsel geben können als zu Beginn der zweiten Halbzeit. Soeben hatte Liverpool in der 50. Spielminute durch einen Elfmeter von Alexis Mac Allister den Ausgleich erzielt, als City-Keeper Ederson sechs Minuten später das Spielfeld verlassen musste. Er hatte den Strafstoß verursacht und sich dabei am rechten Oberschenkel verletzt. Nach einem zu kurzen Rückpass des Verteidigers Nathan Aké erwischte Ederson statt dem Ball den heranrauschenden Stürmer Darwin Núñez. Für den Brasilianer kam der deutsche Stellvertreter Stefan Ortega ins Spiel. Ohne Aufwärmphase war er sofort auf höchstem internationalen Niveau gefordert.
Doch die Veränderung auf der Torwartposition geriet Manchester City nicht zum Nachteil, sondern womöglich sogar zum Vorteil. Denn Stefan Ortega hielt mit mehreren grandiosen Paraden geradezu das 1:1 für seine Mannschaft fest. Damit rutschte der Serienmeister zwar einen Zähler hinter die punktgleichen Tabellenführer Arsenal und Liverpool. Aber er hat das mutmaßlich angenehmste Spielprogramm bis zum Saisonende. Auf der Vereinswebseite war John Stones ausgesprochen entzückt über die Leistung des Schlussmanns. Ortega sei ein „unglaublicher Torwart“, der in einer nicht einfachen Situation wunderbar intelligente Paraden gezeigt hätte, fand der Abwehrchef.
Im Sommer 2022 kam Ortega ablösefrei aus Bielefeld
Wahrhaftig bot der 31-Jährige, der im Sommer 2022 ablösefrei vom damaligen Bundesliga-Absteiger Arminia Bielefeld nach Manchester übergesiedelt war, ein Potpourri an exzellentem Torwartspiel. Zunächst entschied er das Duell mit dem frei auf ihn zulaufenden Luis Díaz für sich, der über die Latte schoss (62.). Dann lenkte Ortega einen Schlenzer von Mac Allister mit der linken Hand um den Pfosten (65.). Und warf sich Darwin Núñez entgegen, der nach einer Flanke aus unmittelbarer Nähe den Ball nicht an ihm vorbeibrachte (71.). Ebenso wenig stand seine Rettungstat gegen Jarell Quansah nach. Dessen Distanzschuss wehrte Ortega mit der rechten Hand hoch zur Seite ab. So kam der einschussbereite Núñez nicht mehr an den Ball (79.).
Im Liverpooler Angriffswirbel, den City-Trainer Pep Guardiola hinterher als „Tsunami“ einstufte, wirkte Stefan Ortega wie der Wellenbrecher für seine Equipe. Die Umstände seiner Darbietung erinnerten an den fünfmaligen Welttorhüter Iker Casillas. Dieser hatte einst 20-jährig für Real Madrid im Champions-League-Finale 2002 Bayer Leverkusen zur Verzweiflung getrieben. Der Spanier musste seinerzeit in der 68. Minute für den angeschlagenen Stammkeeper César Sánchez einspringen und rettete seinem Team mit einer Serie an Glanztaten einen knappen Sieg über die Zeit.
Gleich mit seiner ersten Aktion erarbeitete sich Stefan Ortega den Respekt
Den Respekt erarbeitete sich Ortega im Spiel gegen Liverpool gleich mit seiner ersten Aktion. Im Spielaufbau passte er den Ball weder zu seinen nebenstehenden Mitspielern noch schlug er ihn nach vorn. Stattdessen führte er ihn bis zur Mitte der eigenen Spielhälfte. Liverpools Angreifer wichen zurück. Und als sie letztlich anfingen, ihn zu attackieren, wartete Ortega bis zuletzt ab, ehe er den Ball über einen Gegenspieler hinweg auf die Seite spielte. Damit demonstrierte er jedem im Stadion seine Präsenz und sein Selbstvertrauen. In diesem Moment dürfte Liverpool bewusst geworden sein, es würde heute schon einer besonderen Handlung bedürfen, um Ortega zu schlagen.
In Fachkreisen gelten sein Spielverständnis, seine Fertigkeiten am Ball und die Positionierung auf dem Platz als beinahe unübertroffen. Er ist Torwart und Torspieler in einer Person. Diese Qualitäten stellte Ortega jetzt erneut unter Beweis, als er die Steilpässe des Gegners fehlerlos einschätzte und abfing. Und er passte, chippte, flankte und schoss den Ball gegen das im Weltfußball am schärfsten nachsetzende Liverpool nach Belieben an jede Stelle in der eigenen Hälfte. Immerzu in der richtigen Höhe, Geschwindigkeit und der Antizipation, wohin sich die Kollegen bewegen würden. Auf ihn trifft wohl die Formel zu: Je besser das Spiel und die Spieler, desto besser ist er selbst.
Je besser das Spiel und die Spieler, desto besser ist Ortega
Stefan Ortega ist mit seiner eher schmächtigen Statur (1,85 Meter) nicht geschaffen für zermürbenden Abstiegskampf. Allerdings befand er sich jahrelang in ebenjenem mit seinem Jugendverein Arminia Bielefeld und dem TSV 1860 München. Aus diesem Grund wird er immer noch häufig unterschätzt. Es dürfte kein Zufall gewesen sein, dass er ungefähr ins Blickfeld von Manchester City geriet, als er mit Bielefeld 2020 in die 1. Bundesliga aufstieg. Arminias damaliger Trainer Uwe Neuhaus ließ einen für Zweitligaverhältnisse ungewöhnlich ambitionierten Ballbesitzfußball spielen. Ortega nahm als Torwart eine Schlüsselrolle ein. Gegnerische Trainer studierten bisweilen mehr ihn als die Feldspieler.
Auch im FA Cup gegen Newcastle wird Stefan Ortega im Tor stehen
Mit seiner angenehmen und loyalen Art erscheint er wie prädestiniert zu sein für die Nominierung als Ersatzmann von Manuel Neuer in der deutschen Nationalmannschaft. In der Rolle der DFB-Stellvertreter, die im Moment die in ihren Klubs als Stammkräfte eingesetzten Marc-André ter Stegen (FC Barcelona) und Kevin Trapp (Eintracht Frankfurt) innehaben, kommt es nämlich nicht ausschließlich die Spielpraxis an. Sondern auch und vor allem auf die Begabung, ohne Vorankündigung einspringen und sofort Topleistung abrufen zu können. Diese Eigenschaft hat kein anderer deutscher Torwart zuletzt so eindrucksvoll unter Beweis gestellt wie Ortega, dessen Vertrag bei Manchester City im Sommer 2025 ausläuft.
Bis zur Rückkehr von Ederson, dessen Diagnose noch nicht bekannt ist, steht Stefan Ortega nun im City-Tor. Am Samstag im FA-Cup-Viertelfinale gegen Newcastle United sowieso – denn in den nationalen Pokalwettbewerben erhält er stets den Vorzug vor Ederson.