Manchester City vor dem Ligatitel
Kuss für Stefan Ortega
15. Mai 2024, 12:13 Uhr
Ersatztorwart Stefan Ortega hält Manchester City mit mehreren Weltklasse-Paraden den Sieg bei Tottenham Hotspur und damit wohl die Meisterschaft fest. Die Spurs-Fans freuen sich mit dem Gegner, obwohl das eigene Team Chancen auf die Champions League hatte – weil es ihnen wichtiger ist, dass der Erzrviale FC Arsenal nicht Meister wird.
Pep Guardiola lieferte die passende Reaktion auf eines der eigenartigsten Spiele in der Geschichte der Premier League. In der 86. Spielminute ließ sich der Trainer von Manchester City am Spielfeldrand aus Verzweiflung auf den Rücken fallen. Im Sitzen mit ausgestreckten Beinen verfolgte er die mutmasslich entscheidende Szene im Fernduell mit dem FC Arsenal um die englische Meisterschaft. Soeben hatte City-Verteidiger Manuel Akanji beim Spielstand von 1:0 für sein Team gegen Tottenham Hotspur den Ball als letzter Mann an der Mittellinie unfreiwillig in den Lauf des Gegenspielers Heung-min Son verstolpert. Der Stürmer sprintete allein auf den City-Ersatztorwart Stefan Ortega zu und hätte mit dem möglichen Ausgleichstreffer wohl dafür gesorgt, dass der Erzrivale FC Arsenal den letzten Saisonspieltag als Tabellenführer in Angriff nimmt.
Doch Son scheiterte mit seinem Flachschuss an Ortega. Der Deutsche weitete im Stile eines Eishockey-Goalies spektakulär seine Beine zu einem Spagat aus und wehrte den Ball mit dem rechten Fuß ab. Fünf Minuten später erzielte Erling Haaland für City per Elfmeter den 2:0-Endstand im Nachholspiel. Ihm war kurz nach der Pause schon der Führungstreffer gelungen. Dadurch liegt City nun zwei Punkte vor Arsenal und kann mit einem Sieg im Heimspiel gegen West Ham United am Sonntag aus eigener Kraft zum historischen vierten Mal in Serie den Ligatitel gewinnen.
Wenn Stefan Ortega nicht gewesen wäre, würde Arsenal die Meisterschaft gewinnen, ist Guardiola sicher
Nach Spielende stürzten sich die Teamkollegen auf Stefan Ortega und bedankten sich bei ihm für seine außergewöhnlichen Rettungstaten. Er hatte schon vor der Son-Parade zwei Mal auf vergleichbare Art gegen Tottenhams Dejan Kulusevski geglänzt. Sein Mitspieler Mateo Kovacic lief nach dem zweiten Tor sogar anerkennend über das gesamte Spielfeld zu Ortega. Und Guardiola küsste den 31-Jährigen.
Wenn Ortega nicht gewesen wäre, würde Arsenal die Meisterschaft gewonnen, erklärte Guardiola. Als Son, der in 17 Pflichtspielen für die Spurs gegen Guardiolas City acht Tore erzielte, frei durch war, habe er gedacht: „Oh mein Gott, nicht schon wieder!“ Allerdings gehöre Ortega in Eins-gegen-Eins-Duellen „zu den besten Torhütern“, die er je gesehen habe, betonte Guardiola: Er bleibt stehen, spekuliert nicht und reagiert dann bemerkenswert geschickt.
Zum dritten Mal in zwei Monaten wird Stefan Ortega eingewechselt
Ortegas Einwechslung in der 69. Minute für den verletzten Ederson erwies sich abermals als Glücksfall für City – und als großes Pech für die Meisterambitionen der Konkurrenz. Schon im März vertrat er im Spitzenspiel beim FC Liverpool den nach der Pause angeschlagenen Stammkeeper Ederson und sicherte seiner Truppe mit diversen Glanztaten ein Remis. Drei Wochen später bewahrte er City im Duell mit Arsenal durch die nächste herausragende Darbietung vor einer Niederlage. In beiden Einsätzen kassierte er kein Gegentor – ebenso wenig wie kürzlich beim Auswärtsspiel gegen Nottingham Forest, als er erneut den lädierten Ederson zur zweiten Halbzeit ersetzen musste.
Aufgrund seiner Weltklasse-Form hätte es Stefan Ortega verdient gehabt, wenn ihn Guardiola kürzlich nach sechs Pflichtspielen am Stück dauerhaft zur Nummer eins befördert hätte. Doch der Trainer wollte die damit wohl aufkommende Unruhe nicht riskieren. Denn Ederson gilt als sehr impulsiv. Diesen Eindruck bestätigte Ederson auch am Dienstagabend, als er nach einer brutal aussehenden Kollision mit Tottenhams Cristian Romero unbedingt weiterspielen wollte. Er wurde mit dem Knie am rechten Auge getroffen und minutenlang behandelt. Nach dem Match war das Auge stark angeschwollen.
Stefan Ortega gehört zu den besten deutschen Torhütern, erhält bisher aber keine DFB-Nominierung
Erst als in den Folgeaktionen offensichtlich wurde, dass sich Ederson nicht im Vollbesitz seiner Kräfte befand, wechselte ihn Guardiola aus. Für diese Entscheidung zeigte Ederson im Dialog mit seinem Trainer kein Verständnis, er zog sich wütend die Handschuhe aus und donnerte sie auf den Boden. Auch Minuten später war der enttäuschte 30-Jährige auf der Ersatzbank kaum zu beruhigen.
Ortega schien die direkt vor ihm abspielende Aufregung ausblenden zu können. Für seinen Kurz-Einsatz bekam er die Man-of-the-Match-Trophäe überreicht. Vielmehr hätte er jedoch eine EM-Nominierung für Deutschland verdient. Ortega, der 2022 ablösefrei vom Bundesliga-Absteiger Arminia Bielefeld zu Manchester City gewechselt war, zählt in Fachkreisen längst zu den besten deutschen Torhütern. Trotzdem wurde er bisher kein einziges Mal für das DFB-Team nominiert.
Die Tottenham-Fans stellen den Support quasi ein – um Arsenal nicht indirekt zu unterstützen
Kurios war das Spiel aber nicht nur wegen der Hauptrolle für den Ersatzmann Ortega. Die fünftplatzierten Spurs hätten mit einem eigenen Sieg die Chance auf die Champions-League-Qualifikation wahren können. Doch die Fans wollten offensichtlich lieber verlieren, als durch Schützenhilfe den Erzrivalen eventuell zum Meister zu machen. Den Ton setzten sie gleich zu Spielbeginn, indem sie kundtaten, Arsenal zu verabscheuen („Stand up if you hate Arsenal!“).
Anschließend stellten sie den sonst lautstarken Support praktisch ein. Bei eigenen Torchancen zog allenfalls ein Raunen durch die Arena. Der Sky-Kommentator Gary Neville johlte angesichts der ungewohnten Stille und des fahrigen City-Spiels, dass Tottenham die Gäste „in den Schlaf“ geschickt habe. Nach dem ersten Gegentor sangen die Spurs-Sympathisanten spöttisch, ob Arsenal sich das anschaue („Are you watching, Arsenal?“). Viele Besucher tanzten zusammen mit den Gästefans spontan im Stadion den Poznan, das Meisterritual von City, bei dem sich gegenseitig eingehakt und dem Spielfeld der Rücken zugekehrt wird. So laut wie üblich wurde es erst in der Nachspielzeit, als der City-Erfolg quasi feststand.
Mit den Eitelkeiten der Fans kann Trainer Postecoglou wenig anfangen
Mit den Eitelkeiten der eigenen Fans konnte Tottenhams Trainer Ange Postecoglou erwartungsgemäß wenig anfangen. Er schimpfte, die letzten zwei Tage hätten ihm gezeigt, dass die Grundlagen inner- und außerhalb des Klubs „wirklich brüchig“ wären. Er wolle eine Siegerelf aufbauen, kritisierte Postecoglou. Statt Tottenham nimmt nun aber Aston Villa erstmals an der Königsklasse teil.