Erik ten Hag bei Manchester United
Von “dead man walking” zu “last man standing”
09. Aug 2024, 17:10 Uhr
Erik ten Hag hat eine kaum für möglich gehaltene Metarmorphose hinter sich. Obwohl dem Trainer von Manchester United in der Vorsaison die Freistellung prophezeit wurde, ist er als einzige Person aus dem Führungszirkel immer noch da. Vor dem Supercup gegen Manchester City wird er erneut als Entlassungskandidat gehandelt.
Schon vor dem englischen Supercup am Samstag zwischen dem Pokalsieger Manchester United und dem Meister Manchester City laufen bereits erste Spekulationen, wie lange sich der zuletzt stark kritisierte United-Trainer Erik ten Hag in der neuen Saison halten kann. Der frühere Klubstürmer Teddy Sheringham mutmaßt, dass ten Hag bei drei schlechten Resultaten zum Start „nach zwei Wochen“ entlassen sein könnte. Sein Expertenkollege Jamie Carragher, ein Spielerveteran des Erzrivalen Liverpool, ist sich sicher, der Niederländer sei bis zu den Länderspielen im November weg – eine amüsante Anspielung auf Uniteds vorherige Trainerabsetzungen von José Mourinho und Ole Gunnar Solskjaer, die jeweils in diesem Zeitraum ihre Sachen packen mussten. Und Dwight Yorke, einst Sturmpartner von Sheringham, glaubt sogar, einen möglichen Nachfolger von ten Hag zu kennen: die Torjäger-Legende Ruud van Nistelrooy, der soeben als Assistent neu zum United-Trainerteam dazugestoßen ist.
Den wenig wohlwollenden Prognosen kann ten Hag immerhin entgegenhalten, dass sich die Annahmen der Fußball-Öffentlichkeit in England schon in der Vorsaison allesamt nicht bewahrheitet hatten. Damals wurde ihm aufgrund des enttäuschenden Ligaabschneidens und Champions-League-Vorrundenaus fast durchweg die Freistellung vorhergesagt, spätestens zum Ende der Spielzeit, hieß es. Doch der Klub schob die Trainerpersonalie bis zur finalen Saisonanalyse in der Sommerpause auf – sodass sich die Situation nach dem überraschenden FA-Pokalsieg gegen Manchester City im Mai auf einmal nur noch bedingt für eine Trennung eignete.
Der Klub tauschte nicht nur das Management aus, sondern auch das Trainerteam
United lotete zwar trotzdem in Person des seit Weihnachten für die Fußballsparte zuständigen Minderheitsbesitzers Jim Ratcliffe das Interesse von mehreren Trainerkandidaten aus, unter anderem von Thomas Tuchel. Aber die gegenseitige Überzeugung für einen Neustart auf dieser Position schien jeweils zu fehlen, auch weil sich die Meinung der Fans zugunsten des amtierenden Trainers gedreht hatte. Nach anderthalb Wochen Bedenkzeit bestätigte United die Zusammenarbeit mit ten Hag und verlängerte dessen Vertrag als Zeichen der Unterstützung um ein Jahr bis 2026. Der Sportdirektor Dan Ashworth versicherte, der Klub habe mit dem 54-Jährigen „den besten Partner“.
So erlebte der 54-Jährige bei United eine kaum für möglich gehaltene Metamorphose, er wurde gewissermaßen von einem dead man walking zu einem last man standing – von einem lebenden Toten zum quasi letzten Überlebenden. Denn ten Hag ist seit Ratcliffes Einstieg bei seinem Kindheitsklub tatsächlich die so ziemlich einzige Person aus der Führungsriege, die in den vergangenen Monaten nicht ausgetauscht worden ist. Neben dem von Newcastle United geholten Ashworth verpflichtete der Klub mit Omar Berrada, abgeworben vom Stadtrivalen City, einen neuen Geschäftsführer und installierte Jason Wilcox vom FC Southampton als Technischen Direktor. Zudem nahm United den Transferstrategen Christopher Vivell unter Vertrag und frischte das Trainerteam auf: Es kam nicht nur van Nistelrooy, sondern ebenfalls Rene Hake, Andreas Georgson und der Torwartcoach Jelle ten Rouwelaar.
Auch dem Kader steht ein Umbruch bevor, die Sorgenfälle Sancho und Greenwood sind gelöst
Eine ähnliche Zäsur findet gerade genauso im Kader statt. Der Klub ließ den Innenverteidiger Raphaël Varane und den Spielmacher Donny van de Beek ziehen. Von beiden hatte sich United mehr versprochen, als sie der Klub vor einigen Jahren kostspielig akquiriert hatte. Dazu fand sich für die hochtalentierten Sorgenfälle Mason Greenwood und Jadon Sancho eine Lösung: Der wegen eines letztlich eingestellten Verfahrens in Bezug auf versuchte Vergewaltigung, Körperverletzung und Nötigung in Ungnade gefallene Greenwood wurde für 26 Millionen Euro an Olympique Marseille verkauft; und der zuletzt zu Borussia Dortmund ausgeliehene Sancho räumte die aus einem Disput im Herbst 2023 resultierenden Differenzen mit seinem Trainer aus. Er gehört wieder der Profimannschaft an.
Allerdings müssen sich die Laufwege des neuen Managements wohl erst noch einspielen. Auf dem Transfermarkt konnte United bisher erst zwei Spieler für sich gewinnen, obwohl die Mannschaft weitere Verstärkungen dringend benötigt, speziell die wacklige Abwehr. Für überteuert wirkende 100 Millionen kamen der zentrale Abwehrspieler Leny Yoro, 18, von LOSC Lille und der frühere FC-Bayern-Nachwuchsstürmer Joshua Zirkzee, 23, vom FC Bologna. Beide sollen vermutlich den Trend verkörpern, dass der Klub zukünftig vorrangig in erfolgshungrige junge Spieler investierten möchte als in Routiniers. Zuletzt schien United sich um die Dienste der Bayern-Verteidiger Matthijs de Ligt und Noussair Mazraoui zu bemühen.
Eine Kernaufgabe für ten Hag besteht darin, die Zahl der Verletzten zu reduzieren
Die Kernaufgabe für ten Hag besteht einstweilen darin, mehr aus dem Potenzial der bestehenden Spieler herauszuholen und sie vor allem auch in eine angemessen gute körperliche Verfassung zu bringen. In der Vorsaison fielen zahlreiche United-Spieler mehr durch ihre Blessuren auf als mit ihren Leistungen. Englische Medien zählten insgesamt 66 (!) Verletzungen im Profikader. Für das Supercup-Spiel gegen City fehlen erneut sicher der Mittelstürmer Rasmus Hojlund mit Oberschenkelproblemen und der eben erst geholt Yoro. In einem Testspiel brach sich der Franzose den Mittelfußknochen und musste operiert werden.
Bei den Buchmachern bleibt Erik ten Hag einer der Favoriten auf einen frühen Rauswurf in der Saison. Kaum Erwähnung findet diesbezüglich, dass Alex Ferguson einst ebenfalls kurz vor der Demission stand, ehe er sich mit einem Cup-Sieg 1990 den Job sicherte und letztlich 27 Jahre bei United blieb. Doch darauf würde bei ten Hag gerade niemand wetten.