Krise bei Tottenham Hotspur

Nur die Unterhaltung stimmt

06. Feb. 2025, 19:00 Uhr

Die Unterhaltung stimmt, aber nicht die sportliche Bilanz: Trainer Ange Postecoglou bei Tottenham Hotspur. (Foto: Sportimage / Imago Images)
Die Unterhaltung stimmt, aber nicht die sportliche Bilanz: Trainer Ange Postecoglou bei Tottenham Hotspur. (Foto: Sportimage / Imago Images)

Unter Ange Postecoglou spielt Tottenham Hotspur einen hochriskanten Fußball. Doch die Erfolge bleiben bisher aus. Im Halbfinale des EFL-Cups geht es nun gegen Liverpool schon um alles. Helfen soll FC-Bayern-Zugang Mathys Tel.

Von Sven Haist, London

Alles oder nichts, so scheint es der Trainer Ange Postecoglou bei Tottenham Hotspur am liebsten zu haben. Nach 24 Spieltagen in der Premier League hat seine Mannschaft nur drei Unentschieden, die zusammen mit Brentford wenigsten von allen Klubs. Seine Sieg-oder-Niederlage-Einstellung passt gewissermaßen zu den Spurs. Deren Vereinsmotto ist es: zu wagen, ist zu tun („to dare is to do“). Demgemäß wählte der Klub einst für eine Netflix-Dokumentation über die eigene Spielzeit 2019/20 den Titel „All or Nothing“ aus.

Allerdings wartet man seit 17 Jahren auf einen Titel, zuletzt holte man den EFL-Cup 2008, in dem alle Klubs aus den ersten vier englischen Profiligen antreten. Auch in dieser Saison sieht es bisher so aus, als würde man hinter den Erwartungen bleiben. In den vergangenen zwölf Ligaspielen gab es gerade mal zwei Siege. Durch diese Bilanz ist man in der Tabelle auf Platz 14 durchgereicht worden, der Rückstand auf die anvisierten Champions-League-Ränge beträgt stattliche 16 Punkte.

Tottenham gewann das Hinspiel gegen Liverpool 1:0

So steht für Tottenham im Halbfinalrückspiel des EFL-Cups beim FC Liverpool am Donnerstagabend quasi bereits alles auf dem Spiel. Der Wettbewerb bietet den kriselnden Spurs die vermutlich einzige realistische Chance in dieser Saison auf ein Ende der titellosen Zeit. Der Weg ins Finale im FA Cup und in der Europa League, in denen der Klub auch vertreten ist, ist beschwerlicher. Immerhin reist das Team mit einem knappen 1:0-Vorsprung aus dem ersten Duell zum souveränen Ligaspitzenreiter nach Anfield.

Die Lage in Tottenham fühlt sich gerade so angespannt an, als würde der Klub in Liverpool vor einer Zerreichprobe stehen. Vielleicht ist die Partie auch genau das, vor allem für den immer stärker in die Kritik geratenen Trainer Postecoglou. Doch der lässt sich die Unmutsbekundungen der Fans und die Spekulationen über eine mögliche Abberufung nicht gefallen. Als er kürzlich gefragt wurde, ob er für das Liverpool-Spiel noch im Amt sein werde, konterte er: „Wer weiß, Mate? Ich schätze, ein großer Teil wird Nein sagen.“ Seine Entschlossenheit bekam zudem ein Spurs-Fan ab, der ihn auf dem Weg zum Stadionausgang provozierte. Postecoglou drehte um und starrte ihn an.

Noch besitzt Postecoglou den Rückhalt des Klubs – weil sein Spielstil unterhält

Während seiner Tottenham-Amtszeit erweist sich der Australier als ebenfalls wortgewaltig und streitbar wie seine berühmten Vorgänger José Mourinho und Antonio Conte. Beide konnten sich bei den Spurs jeweils nur anderthalb Jahre halten. Obwohl Postecoglou im Vergleich zu diesen in seinen bisher 19 Monaten die dürftigste Bilanz aufweist, besitzt er noch den Rückhalt des Klubchefs Daniel Levy – mutmaßlich, weil er sein Team so bedingungslos angreifen lässt, wie Mourinho und Conte einst zur Ernüchterung des Publikums verteidigen ließen.

Die Londoner Newszeitung i Paper beschrieb den 59-Jährigen als „brillanten, sturen Fußballpuristen“. In den Tottenham-Ligaspielen sind die meisten Tore gefallen, insgesamt 85, was mehr als dreieinhalb Treffer pro Match entspricht. „Fühlt ihr euch nicht unterhalten?“, witzelte Ange Postecoglou nach einem 4:3 seines Teams nach 3:0-Führung. Anfangs waren Klub und Öffentlichkeit sehr  angetan vom Risikofußball des Trainers. Im Herbst 2023 führte Tottenham die Tabelle an, die Spurs waren das seinerzeit attraktivste Ding der Liga.

Ein Problem der Krise ist die lange Verletztenliste

Doch dieses Tempo ließ sich nicht durchhalten. Die Probleme sind nun ersichtlich: Es mangelt an Balance, Konstanz und Stabilität. Der Vorwurf an Ange Postecoglou ist, dass die Verletzungsmisere – die Spurs müssen in Liverpool auf bis zu elf Spieler verzichten – auch ein Resultat des besonders kräftezehrenden Spielstils sein könnte. Dem widerspricht der Trainer, er hält die Ausfallliste eher für Pech. Immer wenn er Licht am Ende des Tunnels gesehen habe, sei es „meist ein entgegenkommender Zug“ gewesen, betonte er sarkastisch. Wie eine Zusammenfassung für den Status quo wirkt das spektakulärste Tottenham-Spiel unter Postecoglou aus der Vorsaison: Man legte zu Hause gegen Chelsea furios los und führte, verlor dann zwei Schlüsselspieler verletzt, handelte sich zwei Platzverweise ein, wurde dann ausgekontert und hätte dennoch am Ende fast ein Remis geholt.

Die Stimmung unter den Anhängern richtete sich erstmals gegen den eigenen Verein nach dem turbulenten 3:6-Ligadebakel gegen Liverpool im Dezember. Damals fand am Spieltag eine kuriose Marketingkampagne von Netflix für die Veröffentlichung einer südkoreanischen Erfolgsserie im Tottenham Stadium statt. Tottenhams Kapitän ist der Südkoreaner Heung-min Son. Die Aktion löste einen Aufschrei beim Stammpublikum aus, ein Fan beschwerte sich seinerzeit, der Klub sei inzwischen in erster Linie ein Unterhaltungszentrum und erst dann ein Fußballverein – wobei Ange Postecoglou hier womöglich scharfsinnig einwenden würde, dass Fußball doch Unterhaltung ist, oder nicht Mate? Das fast inflationär nachgeschobene „Mate“ (Kumpel) als rhetorisches Mittel lasse ihn um viele Dinge herumkommen, erklärte der Trainer. Aber vor der Unzufriedenheit bewahrt es ihn und den Klub nicht. Auf einem Spurs-Plakat stand: „24 Jahre, 16 Trainer, 1 Trophäe – Zeit für einen Umsturz“.

Tottenham verpflichtete im Winter vier neue Spieler

Um Ange Postecoglou trotzdem den Rücken zu stärken, verpflichtete der Klub aufgrund des ausgedünnten Kaders in der soeben zu Ende gegangenen Wintertransferperiode vier neue Profis, darunter auf den letzten Drücker den Innenverteidiger Kevin Danso vom RC Lens sowie den Stürmer Mathys Tel vom FC Bayern. Beide sind bis zum Saisonende ausgeliehen und könnten je nach Eintreffen der Arbeitspapiere gegen Liverpool bereits mitwirken. Angesichts der Unberechenbarkeit der Spurs lässt sich das Cup-Match kaum prognostizieren. Fest steht in jedem Fall, dass es am Ende einen Sieger geben wird. Tottenham würde nach dem Hinspielerfolg übrigens ein Remis für den Finaleinzug reichen.

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