Fußball in Saudi-Arabien
Duell um die Deutungshoheit
09. Feb 2024, 05:00 Uhr
Jordan Henderson ist der erste prominente Abgang, den Saudi-Arabien nach seiner Transferoffensive im vergangenen Sommer zu verzeichnen hat. Der europäische Fußball vermutet darin eine Zäsur für die Saudis – doch die halten dagegen.
Schon nach einem halben Jahr ist das Engagement von Jordan Henderson in Saudi-Arabien wieder beendet. Gemeinsam mit den Global Playern Cristiano Ronaldo, Karim Benzema und dem verletzten Neymar war der englische Nationalspieler zuletzt der bekannteste Fußballer in der aufstrebenden Saudi Pro League. Weil sich Henderson darüber hinaus wie nur wenige seiner Berufskollegen jahrelang aktiv gegen Homofeindlichkeit ausgesprochen hatte, galt seine Verpflichtung als besonders kontrovers. Im repressiven Wüstenstaat werden bisher gesetzlich nur heterosexuelle Beziehungen toleriert. Die Kritik an seinem Wechsel nach Saudi-Arabien beschädigte Hendersons Ruf – und auf ähnliche Weise kratzt nun sein fluchtartiger Abschied die Reputation des Saudi-Fußballs an.
Vermutlich sorgte sich Henderson um die Perspektive im Nationalteam
Mitte Januar einigte sich Henderson mit dem saudischen Klub al-Ettifaq auf eine sofortige Auflösung seines frischen Dreijahresvertrags und schloss sich ablösefrei Ajax Amsterdam an. Seit seinem Transfer vom FC Liverpool im vergangenen Sommer bestritt der Engländer 19 Matches für den derzeitigen Tabellenachten al-Ettifaq, größtenteils vor fast leeren Stadien. Sein Verein gehörte nicht zu denjenigen Erstligisten, die der saudische Staatsfonds im Sommer 2023 zu 75 Prozent vom Sportministerium des Landes übernommen und mit Millioneninvestitionen hochgerüstet hatte. Bei seiner Vorstellung im kriselnden Ajax räumte Henderson den Schritt in die Wüste als Fehler ein. Er dürfte sich vor allem um seine Nominierung für die EM 2024 gesorgt haben. Der englische Nationaltrainer Gareth Southgate hatte zwar angekündigt, sich Spiele von Henderson vor Ort anzusehen – dies dem Vernehmen nach aber nie getan.
Henderson ist der erste international prominente Abgang, den die saudische Liga seit ihrer Transferoffensive zu verzeichnen hat. Begonnen hatte diese im Anschluss an die Winter-WM 2022 im Nachbarstaat Katar. Und die BBC mutmaßt, Henderson werde diesen Status des alleinigen Rückkehrers «nicht lange» innehaben. So kritisierte der ebenso im Vorsommer nach Saudi-Arabien gewechselte Manchester-City-Verteidiger Aymeric Laporte im Sportblatt «As» kürzlich das Prestigeobjekt der Saudis so unverhohlen wie bisher kein anderer Profi. Der Spanier ist in Diensten des Ronaldo-Klubs al-Nassr. Die Vereine würden sich nicht ausreichend kümmern, klagte Laporte. Er habe sich eine andere Lebensqualität vorgestellt, als zum Beispiel wegen des dichten Stadtverkehrs in Riad «täglich drei Stunden im Auto» zu verbringen. Zwar habe er noch keinen Rückwechsel in Erwägung gezogen, aber dies könne in Zukunft passieren, wenn sich nichts ändere.
Hendersons Abschied sei Teil des Fußballs, kontert Liga-Geschäftsführer Allazeez
Die Unzufriedenheit einiger Spieler wirkte wie Wasser auf die Mühlen der Kritiker der saudischen Ambitionen. Diese sehen vor, bis zur quasi feststehenden WM 2034 im eigenen Land eine führende Rolle im Weltfußball zu übernehmen. Der britische «Telegraph» glaubt, der Henderson-Rückzug könnte eine «Zeitenwende» darstellen: «Die Fußballträume von Saudi-Arabien verblassen im Schatten von Chinas Scheitern», titelte die Zeitung. Nach dem Aufruf des chinesischen Präsidenten Xi Jinping 2015, das eigene Land zu einer Fußballnation zu machen, versuchten die chinesischen Klubs damals vergeblich, die besten Spieler mit lukrativen Verträgen ins Land zu locken. Auch diesmal gibt sich UEFA-Präsident Aleksander Ceferin im Hinblick auf die Stellung des europäischen Fußballs selbstbewusst. Er betonte im «Telegraph», dieser habe «starke Wurzeln» und die Fans würden den Spielern «nicht bis auf den Mond» folgen.
Der saudische Fußball sei besser als der französische, findet Cristiano Ronaldo, der bestbezahlteste Profi der Saudi League
Die Reaktionen vom alten Kontinent zum Machtstreben der Saudis haben ein Duell um die Deutungshoheit provoziert. Der saudische Liga-Geschäftsführer Saad Al-Lazeez betrachtet die vorzeitig beendete Zusammenarbeit mit Henderson als «Teil des Fußballs». Trotz aller Bemühungen könne es passieren, dass sich Menschen in neuer Umgebung nicht zurechtfänden, sagte Al-Lazeez: Daran trage «niemand Schuld». Grundsätzlich gehe die Entwicklung der Liga «in die richtige Richtung», verfügte er.
Diese Ansicht vertritt auch al-Nassr-Spieler Sadio Mané, der im Rahmen des Afrika-Cups pikiert auf die Frage reagierte, ob er in Saudi-Arabien weniger Aufmerksamkeit erhielte als zuvor in Europa. «Das denkt ihr, weil ich nicht mehr in Europa bin», echauffierte sich der Stürmer, diese Haltung sei «traurig». Er, Mané, könne sagen, dass die saudische Liga eine «sehr gute» sei. Sogar eine bessere als die französische – die derzeitige Nummer fünf im Uefa-Ranking –, fand kürzlich der Teamkollege Ronaldo. Er lässt sich sein Engagement wie alle anderen bekannten europäischen Spieler am Persischen Golf fürstlich entlohnen.
Bisher zeigen Europas Topvereine kaum Interesse an Rückholaktionen
Die unterschiedlichen Auffassungen prallten zuletzt ebenso in der saudischen Nationalmannschaft aufeinander. Vor der Asien-Meisterschaft beschwerte sich der Nationaltrainer Roberto Mancini, der 2021 Italien zum EM-Titel geführt hatte, über einige seiner Auswahlspieler. Diese hätten im Vorfeld des Turniers eine Startelf-Garantie gefordert, erklärte der Italiener, woraufhin er sie nicht nominierte. Sowas sei ihm noch nie passiert, schäumte Mancini. Die Saudis scheiterten ohne die aussortierten Spieler schon im Achtelfinale an Südkorea.
Doch derlei Konflikte scheinen die Fussball-Verantwortlichen in Saudi-Arabien einkalkuliert zu haben. Denn sie könnten dazu beitragen, die eigene Nationalmannschaft und die heimischen Vereine anzustacheln, die eigenen Standards so schnell wie möglich zu heben – auf das Niveau der europäischen Konkurrenz. Vom Erfolg dieser Entwicklung wird wohl abhängen, wie lange die geholten Spitzenspieler in der Liga bleiben. Dabei dürfte den Saudis sogar die ablehnende Haltung der Europäer ein Stück weit entgegenkommen, weil deren Topklubs an den einst abgewanderten Spielern kaum mehr Interesse bekunden. Das bekam zuletzt auch Jorden Henderson bei seinem Wechsel zu Ajax Amsterdam zu spüren, den Tabellenfünften der niederländischen Liga.