Snooker-Weltmeister Kyren Wilson
Ein Triumph der Familie
07. Mai 2024, 14:00 Uhr
Die vergangenen Jahre waren für Kyren Wilson ein Albtraum. Doch als die Favoriten bei der diesjährigen Snooker-WM patzen, nutzt er seine Chance und krönt sich im Finale gegen Jak Jones zum neuen Weltmeister. Den Triumph widmet er seiner Familie, die für seine Karriere das Haus mit Hypotheken belastet hat.
Für das Siegerfoto ordnete Kyren Wilson seine Familienmitglieder so strukturiert an, wie er zuvor immerzu die weisse Spielkugel auf dem Snookertisch platziert hatte, um die farbigen Objektkugeln der Reihe nach zu versenken. Seine beiden Söhne sassen jeweils neben dem Pokal auf der mit Konfetti übersäten grünen Spielfläche, dahinter standen er und seine Frau. Anschliessend liess sich Wilson mit seinem Bruder fotografieren und dann mit den Eltern. Ihm war es ein grosses Anliegen, das sein erster Weltmeistertitel als Familienerfolg verstanden wird – denn diese hatte ihn seit Kindestagen massgeblich unterstützt und zu seinem bisherigen Karrierehöhepunkt verholfen.
Mit 18:14 Frames setzte sich Kyren Wilson im zweitätigen Finale gegen den Waliser Jak Jones am Montagabend im Crucible Theater zu Sheffield durch. In der ehrwürdigen Spielstätte mit knapp 1000 Zuschauern findet seit dem Jahr 1977 das wichtigste Snooker-Turnier des Jahres statt. Dabei nutzte der Engländer seinen Vorsprung aus, den er sich in der ersten von vier Spielsessions tags zuvor erspielt hatte: Er gewann die ersten sieben Frames in Folge. Die Vorentscheidung fiel im dramatischen 28. Duell der beiden beim Spielstand von 16:11, als die schwarze Kugel wegen Punktgleichstand am Schluss neu aufgelegt werden musste – Wilson versenkte sie sehenswert und etwas glücklich über drei Banden. Trotz der unwahrscheinlichen Aufholjagd von Jones behielt er stets die Nerven.
Der Schlüssel zum Sieg sind sieben Frame-Gewinne in Serie zu Beginn
Der 32-Jährige verlor die Contenance erst, als ihm der Sieg nach dem erfolgreichen Stoß einer roten Objektkugel defacto nicht mehr zu nehmen war. Er lag bei noch 51 verbleibenden Punkten mit 54 vorn. Zwei Mal hintereinander entfiel ihm lautes „Come on“, er ballte die Faust und streckte vor Erleichterung die Zunge raus. Bei der Siegerehrung entschuldigte er sich bei Jones für den emotionalen Ausbruch, aber der Erfolg hätte ihm so viel bedeutet.
Als Zugabe lochte Kyren Wilson unter den Beifallsbekundungen des Publikums die blaue, eine weitere rote und die schwarze Kugel. Doch weiter kam Wilson beim Leerspielen des Tisches nicht mehr, er hatte Tränen in den Augen. «Ich kann nichts mehr sehen», stammelte er und erwähnte später, diesen Moment nie mehr zu vergessen. Die Reaktion war allzu verständlich, weil die Zuschauerzahl bei seinem ersten Weltfinal 2020 wegen der Corona-Pandemie stark beschränkt wurde. Damals deklassierte ihn der inzwischen siebenfache Champion Ronnie O’Sullivan.
Die Favoriten Ronnie O’Sullivan und Judd Trump scheitern im Viertelfinale
Von dieser Erfahrung profitierte er jetzt bei seinem zweiten Anlauf. Er habe vor Beginn des Finals gesehen, dass sein Gegner erschöpft ausgesehen hätte – so, wie er selber vor dem Match gegen O’Sullivan. Deshalb habe er zu sich gesagt, er müsse das Spiel «sofort nach Hause bringen». Wilson erhält für den Titel eine halbe Million Pfund und rückt auf den dritten Weltranglistenplatz vor. Bei diesem Turnier war er an Position zwölf gesetzt, sie erwies sich wie eine Glückszahl. Auf dem Weg zum Turniersieg musste er keinen besser klassifizierten Kontrahenten schlagen. Die hoch gehandelten O’Sullivan und Judd Trump scheiterten jeweils überraschend im Viertelfinal, der als Weltranglistenführender ins Turnier gehende Luca Brecel sogar schon in der ersten Runde. So schafften es erstmals seit 1977 drei Qualifikanten ins Halbfinal – darunter der bis hierhin kaum in Erscheinung getretene Trump-Bezwinger Jones. Der 30-Jährige spielte sich durch den Finaleinzug in die Weltspitze vor.
Dass sich Kyren Wilson eines Tages eventuell zum Weltmeister krönen könnte, wurde ihm schon zu Kindestagen vom früheren Champion Peter Ebdon prophezeit. Trotz seiner Begabung musste er jedoch viele Hürden überwinden. Als 19-Jähriger fiel er nach nur einer Saison aus der Profitour und scheiterte bei zwei Versuchen, sich seinen Platz wieder zu erspielen. Er kehrte in seine Heimatstadt Kettering in Mittelengland zurück und arbeitete neben dem Training in einer Bar. Erst nach drei Jahren kehrte er in den Spitzensport zurück, sein erstes Master-Turnier gewann er 2015 in Shanghei.
Seine Eltern nahmen Hypotheken auf, um seine Karriere zu fördern
Auch finanziell und gesundheitlich musste sich Wilson durchbeissen. Sein Spitzname ist «The Warrior», der Kämpfer. Immer wieder stützten ihn die Eltern und der Bruder, sie hätten «ihr ganzes Leben» für ihn geopfert, betonte er nach dem WM-Sieg. Sie nahmen unter anderem Hypotheken auf, um seine sportlichen Ambitionen zu fördern. Zuletzt benötigte sein Sohn ernsthafte medizinische Hilfe und seine Frau erlitt wohl deswegen einen Schlaganfall. Sie musste ihren Führerschein abgeben, was unmittelbare Auswirkungen auf das Trainingsprogramm von Wilson hatte.
Die vergangenen Jahre seien «ein Alptraum» gewesen, gestand Wilson. Es sei schwer gewesen, das alles auszublenden und mit der Arbeit weiterzumachen, aber er liebe nun mal diesen Sport. Gewissermassen habe er seine Seele an Snooker verkauft – und das hätte ihn letztlich an diesen Punkt gebracht. Umso schöner sei es jetzt, dass er sich bei der Familie mit diesem Triumph ein bisschen revanchieren könne. Seine Söhne fielen ihm auf der Bühne herzlich in die Arme. Einer von ihnen rief ihm dabei staunend zu: «Du bist Weltmeister!»