WM-Qualifikation England
„Thomas, give us a song“
19. Okt. 2025, 16:14 Uhr

Sechs Spiele, sechs Siege: Thomas Tuchel führt England als erstes europäisches Team souverän zur WM 2026. Im Umgang mit etablierten Spielern zeigt er klare Kante und macht auch den Fans deutlich: Leistung ist gefragt. Deren Reaktion? Typisch britisch – mit einer Prise Humor.
Die Gesänge der englischen Fußballfans waren am Dienstagabend auf dem Niveau ihrer Nationalmannschaft: England gewann sehenswert 5:0 in Lettland und sicherte sich damit als erste europäische Nation die Teilnahme an der WM 2026. Lange Zeit hatten sich die Fans nichts Originelles einfallen lassen müssen, um mit den Leistungen der Three Lions qualitativ mitzuhalten, denn die boten unter Trainer Gareth Southgate und zunächst auch unter dessen Nachfolger Thomas Tuchel – abgesehen von stets überzeugenden Ergebnissen – selten Pointen. So war es aus Gewohnheit nachvollziehbar gewesen, dass die Stimmung in der Vorwoche beim Test gegen Wales (3:0) im Wembley bisweilen einzuschlafen drohte, obwohl Tuchels Engländer drei Tore in den ersten 20 Minuten erzielten. Die mangelnde Anerkennung verärgerte den Deutschen, der sich nach dem Match beklagte. Das Stadion habe geschwiegen, stellte Tuchel entrüstet fest, zeitweise habe man nur noch die gegnerischen Fans gehört. „Traurig“ sei das gewesen.
Diese Kritik erwiderten die stolzen, in der Regel lautstark singfreudigen englischen Aficionados nun auf typisch britische Art. Sie lärmten während des Qualifikationsspiels im Daugava-Stadion zu Riga gleichermaßen amüsiert wie selbstironisch: „Our support is fucking shit“, unsere Unterstützung ist verdammt scheiße! Der Gästeblock war immerhin mit mehr als 2500 Angereisten besetzt, was ein Viertel der Gesamtkapazität ausmachte – trotz Dauerregens, fehlender Überdachung und bescheidener Sicht auf den Rasen. Dem ersten Parlando der Fans folgten weitere heitere Singsprüche, die direkt an Tuchel gerichtet waren: „We‘ll sing when we want“ (Wir singen, wann wir wollen); „It’s all quiet over here“ (Hier drüben ist alles still); „1:0 to the library“ (1:0 für die Bibliothek) und: „Are we loud enough for you?“ (Sind wir laut genug für dich?). Die Lied-Palette fand ihren Höhepunkt, als Tuchel aufgefordert wurde, zum Vorsänger zu werden: „Thomas, give us a song!“
Tuchel unterließ zwar eine musikalische Replik, machte den Fans aber Komplimente. Die Unterstützung sei diesmal brillant gewesen, lobte er, die Gesänge hätten ihn „zum Schmunzeln gebracht“, er fand sie einfallsreich und witzig. Dass er selbst „ein wenig Gegenwind“ abbekommen habe, sei nach seiner Kritik zuletzt „fair“ gewesen: „Das ist britischer Humor, damit kann ich umgehen. Kein Problem!“ Mit seinen spitzen Anmerkungen vom vergangenen Freitag wollte Tuchel bewusst eine Reaktion der Fans provozieren. Denn der Trainer will nicht nur aus seiner Mannschaft, sondern auch aus ihnen die letzten Prozente herausholen.
Nach seiner unspektakulären Eingewöhnungszeit geht es für Tuchel, 52, jetzt darum, alle Bereiche zu optimieren, um die Engländer erstmals seit dem Heimsieg 1966 zum Weltmeister zu machen. Weil England zuletzt bereits mehrmals erst kurz vor möglichen Titeln scheiterte, sieht er das Verbesserungspotenzial in Details – zum Beispiel beim Fan-Support. Innerhalb des Teams bekommen insbesondere die Stars Tuchels Unnachgiebigkeit zu spüren. Er kann sich das leisten, weil er aufgrund seiner bisherigen Erfolge auf der Insel selbst hoch angesehen ist. So reibt sich Tuchel an exponierten Ausnahmespielern wie Jude Bellingham von Real Madrid, Cole Palmer von Chelsea, Phil Foden von Manchester City und (mit Abstrichen) am von City nach Everton ausgeliehenen Jack Grealish.
Deren verletzungs- und formbedingte Absenz nutzte Tuchel zuletzt, um auch ohne sie eine schlagkräftige Mannschaft zu formen. Abzulesen ist das an der beachtlichen Bilanz in der WM-Qualifikation: sechs Siege in sechs Spielen, null Gegentreffer. Vor allem die jüngsten 5:0-Kantersiege in Serbien und nun in Lettland bringen Tuchel in die komfortable Position, seine Spitzenkönner ein wenig zappeln lassen zu können. Sehr deutlich zu sehen war das am aktuellen Kader, bei dem er aus freien Stücken auf Bellingham verzichtete – die größte Berühmtheit im Team, noch vor dem bescheidenen Kapitän Harry Kane vom FC Bayern.
Bei der Bekanntgabe seines Aufgebots erzählte Tuchel beiläufig, aber bewusst, dass er mit Bellingham telefoniert habe und dieser den Wunsch geäußert habe, nach seiner auskurierten Schulterverletzung nominiert zu werden. Tuchel jedoch wies dieses Ansinnen zurück. Eine solche Konstellation hatte es seit Bellinghams Debüt für die Three Lions Ende 2020 noch nie gegeben. Seither stand der 22-jährige Mittelfeldspieler bei jedem Länderspiel im Kader – es sei denn, er war verletzt oder wurde einvernehmlich geschont.
Tuchels Vorgehen ist ein deutliches Signal an Englands Asse, anders als mancher Vorgänger lässt er sich nicht von Namen und Reputation beeindrucken. Ein Dreivierteljahr vor der WM zählen für ihn die aktuelle Form – und vor allem: die Teamfähigkeit. Letztere hatte zuletzt mitunter gelitten und ist einer der Gründe, weshalb Tuchel auf Routiniers wie Jordan Henderson und Dan Burn setzt. Beide sind fußballerisch zwar nicht auf dem Niveau ihrer jüngeren Kollegen, spielen in der Teamhierarchie aber eine wichtige Rolle. So fordert Tuchel von seinen Granden sowohl eine Leistungssteigerung als auch mannschaftsdienliches Auftreten ein. „Um glaubwürdig zu sein, muss ein Trainer seinen Worten Taten folgen lassen“, sagte Tuchel. Er hatte stets betont, es gebe „absolut keine Garantien“ für irgendeinen Spieler. Mit der Personalie Bellingham hat er das nun unterstrichen – auch Foden und Grealish wurden nicht berücksichtigt, Palmer fehlte verletzt.
Vor den beiden letzten Pflichtspielen 2025 gegen Serbien und Albanien findet Tuchel eine nahezu ideale Konkurrenzsituation vor: Die Stars sind aktuell die Herausforderer. Dazu sagt Tuchel: „Was wir aufgebaut haben, ist sehr wertvoll – und das werden wir nicht aufs Spiel setzen.“ Dennoch weiß er natürlich, dass Bellingham & Co. in Hochform unentbehrlich dafür sind, die Hand nach dem goldenen Weltpokal auszustrecken. Aus diesem Grund sagt er auch, dass für besondere Spieler besondere Regeln gelten könnten. Aber inwiefern und wann er auf diesen Satz zurückgreift, ließ Tuchel offen. Derzeit genieße er einfach den Augenblick, sagt er, denn es sei nicht alltäglich, sich für eine WM zu qualifizieren. Als sich Tuchel zum Abschluss in Riga bei den englischen Fans bedankte, skandierten sie seinen Namen.
Plötzlich unterhaltsam
Nach mehreren unattraktiven Darbietungen seiner Mannschaft widerlegt Thomas Tuchel bei Englands 5:0 in Serbien alle Skeptiker. Der englische Nationaltrainer wird mit Lob überschüttet - und das Mutterland des Fußballs fängt zu träumen an.
