WM-Qualifikation 2026
Englischer Fußball für Englands Nationalelf
20. März 2025, 18:05 Uhr

Bei seiner ersten Kadernominierung als englischer Nationaltrainer kündigt Thomas Tuchel an, das Teamgefüge seines Vorgängers Gareth Southgate beibehalten, aber den Spielstil verändern zu wollen. Für seine Idee stehen drei markante Personalien – sowie sein eigenes Auftreten.
Bevor es für Thomas Tuchel ernst wurde als neuer englischer Nationaltrainer, ging er noch einmal feiern. Er nahm kürzlich an einem Treffen früherer und aktueller Spieler des FC Chelsea teil, mit denen er 2021 die Champions League gewann; es wirkte wie ein Revival. Auf Bildern, die von der Ehefrau des damaligen Chelsea-Mittelfeldstrategen Jorginho auf Instagram gepostet wurden, ist Tuchel zu sehen, wie er mit diesem gut gelaunt im marineblauen Outfit mit Schiebermütze posiert.
Seit Jahresbeginn verfolgte Tuchel 25 Spiele live im Stadion
Aus Tuchels Auftritt konnten die Engländer sein persönliches Wohlbefinden und sein kameradschaftliches Verhältnis zu seinen einstigen Spielern ableiten. Zudem rief der Anlass seinem Three-Lions-Team in Erinnerung, dass Tuchel bereits große Trainererfolge verzeichnet hat und ihm die ewige englische Schatzsuche nach dem Weltpokal daher zuzutrauen ist. Den Pokal möchten die Engländer dann 60 Jahre nach dem WM-Heimsieg 1966 beim Turnier 2026 in den USA, Kanada und Mexiko wiederfinden.
Den Ausgangspunkt für diese Mission stellte eine Pressekonferenz am Freitag im Nationalstadion Wembley dar, auf der Tuchel, 51, ein halbes Jahr nach seiner Vorstellung an selber Stelle seinen ersten englischen Kader für die WM-Qualifikationsspiele gegen Lettland und Albanien präsentierte. Mit einem schwungvollen „Hello, everyone“ nahm er auf dem Podium Platz, dann rieb er sich tatendurstig die Hände, schenkte sich ein Glas stilles Wasser ein und hielt eine Lesebrille parat, die er aber nicht aufsetzte. Es gab einiges zu besprechen, nachdem Tuchel bisher nur zu sehen, aber nie zu hören gewesen war. Seit dem offiziellen Vertragsbeginn im Januar besuchte der in der Vorsaison beim FC Bayern tätige Coach 25 Spiele in 72 Tagen im Stadion.
Im Länderfußball gehe es darum, eine Bruderschaft aufzubauen, sagt Tuchel
Aus der Nominierungsliste ergab sich eine erste Idee von seiner künftigen Route. Der Trainer möchte einerseits die Hierarchiestrukturen seines Vorgängers Gareth Southgate beibehalten, andererseits den Spielstil verändern. Beispielhaft dafür waren die drei markantesten Personalien: die Rückkehr der bei der EM 2024 nicht berufenen Spieler Jordan Henderson (Ajax Amsterdam) und Marcus Rashford (Aston Villa, geliehen von Manchester United) sowie des 32-jährigen, erstmals berücksichtigten Dan Burn (Newcastle United). Im Länderfußball gehe es besonders darum, „einen Geist und eine Bruderschaft aufzubauen“, die sich auf die Nation übertrage, analysierte der bisherige Klubtrainer Tuchel. Dies könne man nicht nur mit „jungen Spielern“ schaffen.
Insgesamt integrierte Tuchel fünf Spieler, die älter sind als 30 Jahre, inklusive des als Kapitän bestätigten Torjägers Harry Kane vom FC Bayern. Es sei bemerkenswert, so Tuchel, wie sich der Mittelfeldprofi Henderson – nach dem Abschied aus Liverpool und einem Abstecher nach Saudi-Arabien – in Amsterdam als Kapitän zurückgekämpft habe. Aus seiner Sicht basiere das auf Charakter, Führungskraft und Energie. Mit seiner Erfahrung sei der 34-Jährige ein bedeutender Ansprechpartner für die jungen Kollegen, betonte Tuchel. Henderson stehe für alles, was er aufzubauen versuche. Ebenjene Werte zeichneten auch den Verteidiger Burn aus.
Englands Fußball soll ein Abbild der Premier League sein
Tuchel stellt dabei eine andere Art von Fußball in Aussicht als Southgate. Im Vergleich zum auf Stabilität und Kompaktheit achtenden Vorgänger möchte Tuchel einen „direkten, physischen und offensiven Stil“ etablieren, auch Rhythmus und Intensität sollen erhöht werden. Ziel sei es, dass seine Elf die Spielweise aus der Premier League „reflektiere“. Denn man müsse „selbstbewusst genug“ sein, als englische Nationalelf „englischen Fußball“ zu praktizieren, statt andere Länder zu kopieren. Solche Eigenschaften werden gemeinhin dem Stürmer Rashford, 27, bescheinigt, einem besonders schnörkellosen englischen Spieler. In Manchester war Rashford allerdings zu selbstgefällig aufgetreten. Mit der Berufung will Tuchel Rashfords jüngste positive Entwicklung bei Villa belohnen und damit sicherstellen, dass dessen Verbesserungen in der defensiven Mitarbeit anhalten. Der Linksaußen hatte Tuchel schon vor Jahren beeindruckt, als er mit Paris Saint-Germain auf Manchester United getroffen war: Rashfords Tore gegen ihn seien „ein bisschen nervig“, klagte Tuchel damals.
Die Anforderungen an seine Spieler lebte Tuchel bei seinem Debütauftritt vor: Er war leidenschaftlich, mitreißend und angriffslustig. Englands Boulevardpresse, die rügte, dass Tuchel unlängst eventuell zu viel Zeit bei seinen Kindern in München verbracht habe, konterte er aus, indem er ausführte, seinen Lebensmittelpunkt nach London verlegt zu haben. Dass manche Kommentatoren sich über seine sportlichen Entscheidungen verwundert zeigten, prallte an Tuchel ebenfalls ab: Ihn würde es mehr überraschen, wenn es keine Debatten im Land gebe.
Tuchels Rhetorik kommt an, auch weil er sich selbst auf den Arm nimmt
Seine Erläuterungen versah er mit der von ihm bekannten Mischung aus Süffisanz, Charme und Chuzpe. Der Beliebtheit bei den englischen Fans konnte er sich sicher sein, als er sich gleich zu Beginn „aus Respekt vor dem Standort“ weigerte, eine Frage auf Deutsch zu beantworten. Und sich hernach mit englischem Humor selbst auf den Arm nahm: Über den Debütanten Burn scherzte er, diesen auf seiner 55 Spieler umfassenden Liste beinahe „übersehen“ zu haben, obwohl der doch so riesig (1,98 Meter) sei.
Erstmals wählte Tuchel keinen deutschen Trainerassistenten mehr aus
Auch nachdenklich gab sich Tuchel, als er erläuterte, es sei an der Zeit gewesen, sich von seinen langjährigen Assistenten Arno Michels und Zsolt Löw zu trennen, um neue Impulse zu ermöglichen. Sein engstes Trainerteam besteht jetzt aus den Engländern Anthony Barry und James Melbourne, dem Portugiesen Henrique Hilário sowie dem Franzosen Nicolas Mayer. Womöglich wäre es der englischen Öffentlichkeit auch kaum zu vermitteln gewesen, weitere Mitarbeiter aus dem Land des Erzrivalen Germany zu engagieren.
Am Montag beginnt für Tuchel sein erster England-Lehrgang. Für sein Dafürhalten fehlte in den Vorjahren „nicht viel“ zu einem englischen Titelgewinn, daher sei „nur ein kleiner Schritt“ nötig. Sollte Tuchel diesen schaffen, wird es für ihn eines Tages sicherlich ein neues Revival geben – dann mit den englischen Nationalspielern.

Thomas Tuchel ist Englands letzte Hoffnung
Thomas Tuchel präsentiert sich bei seiner Vorstellung als englischer Nationaltrainer gut gelaunt und als Gentleman. Die Anstellung eines Deutschen, dem Fußball-Erzrivalen des Landes, schien lange undenkbar zu sein. Trotz der Kritik hofft Tuchel auf eine "faire Chance".